Die Saat - Ray, F: Saat
Menti!.
»420 000 Exemplare wie Le Canard verkaufen wir zwar noch nicht, aber es geht aufwärts«, hat Christian gesagt, als er im Oktober die Flasche Champagner für die verkauften 50 000 Exemplare spendierte und entkorkte.
Camille wirft ihre Umhängetasche und ihren Ledermantel aus dem letzten Schlussverkauf auf den Tisch neben dem Kopierer, zieht ihre Bluse und ihren karierten Rock gerade, den sie lieber bei Hilfiger als in einem Billigladen gekauft hätte, und geht zur Toilette. Seit die erste Begeisterung über die eigene Zeitschrift verflogen und die Aussicht auf ein höheres Gehalt in weite Ferne gerückt ist, fragt sie sich immer häufiger, ob sie tatsächlich den richtigen Weg gewählt hat. Warum konnte sie die Affäre mit Herb Ritter nicht ein wenig länger durchhalten? Herb Ritter von BBC International. Sie hätte sicher einen Job ergattern können … Du stehst dir selbst im Weg, Camille!, hat ihre Mutter immer gesagt.
Sie dreht das Wasser auf und wäscht sich die Hände. Jedes Mal, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt, hat sie das dringende Bedürfnis, das zu tun. Sie sieht in den Spiegel. Du siehst fertig aus, Camille, wenn du so weitermachst, landest du bald bei deinem Vater im Saint-Louis. Sie weiß nicht, wie sie das ewige Pendeln zwischen ihrer Wohnung in der Rue Coetlogon im 6. Arrondissement, der Redaktion im 3. und dem Krankenhaus Saint-Louis im 10. Arrondissement durchhalten soll. Glücklicherweise hat sie sich letzten Monat dazu durchgerungen, mit dem Geld ihres Vaters ein neues Autos zu leasen, einen brombeerfarbenen C3 Pluriel mit elektrischem Faltdach, nachdem ihr alter Peugeot sich mindestens vier Mal die Woche weigerte, anzuspringen.
Warum musstest du einen Schlaganfall bekommen, Papa? Seit es passiert ist, vor zwei Tagen, muss sie daran denken, wiees weitergehen soll. Nach dem Tod ihrer Mutter hat er allein in der riesigen Wohnung in der Rue de Montpensier mit großartigem Blick auf den Park des Palais Royal gelebt. Die Putzfrau kam alle zwei Tage, kochte auch hin und wieder. Aber jetzt? Sein rechter Arm ist gelähmt. Das ist teilweise reversibel, meinen die Ärzte, aber daran muss man arbeiten. Übungen. Behandlungen. Jemand muss ihn versorgen, sich um ihn kümmern.
Sie trocknet sich die Hände ab und legt neuen Lippenstift auf. Sie hasst es, wenn sie ihr Spiegelbild hässlich findet. Das kann sie völlig aus der Fassung bringen und ihr das Selbstbewusstsein rauben. Leider. Denn das kann sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Von ihrer Schwester kann sie sich keine Hilfe erhoffen. Valéria hat ihr letzte Weihnachten klargemacht, dass sie nur im äußersten Notfall – wahrscheinlich meinte sie, kurz vor der Beerdigung – von Martinique hierherfliegen würde. Angeblich kann sie ihren Mann und ihre Töchter einfach nicht allein da unten lassen. Eine faule Ausrede, Maurice ist laut ihrem Vater ein »cleverer Bursche«, war Inhaber einer Dotcom-Firma, nahm Unsummen von Geld durch einen Börsengang ein, verkaufte seine ganzen Aktien kurz vor dem Crash und siedelte nach Martinique über. Er müsste sicher nicht verhungern, wenn er ein paar Tage ohne seine Frau wäre. Aber Valéria bleibt trotzdem die, die es geschafft hat, in den Augen ihres Vaters. Journalistin – und dann auch noch in einem Satireblatt! Eine unglaubliche Vergeudung von Talent, meint ihr Vater. Würde sie scheitern, sähe er sich bestätigt. Diesen Gefallen wird sie ihm nicht tun. Um keinen Preis. Irgendwann wird er sprachlos sein wegen ihres Erfolgs, den er ihr niemals zugetraut hat. Camille wirft einen prüfenden Blick auf ihr Augen-Make-up, fährt sich durch das stufig kurz geschnittene blonde Haar. Okay, fangen wir an! Wer war Professor Frost?
Mit plötzlicher frischer Energie geht sie durch den hohen,schlecht zu heizenden Raum mit der abblätternden Stuckdecke und dem knarrenden Parkett, in dem sie sonst alle vier und manchmal auch die Aushilfen sitzen, zu ihrem Schreibtisch am Fenster und klappt ihr Apple-Notebook auf.
Schon gestern auf dem Weg vom Hôpital Saint-Louis in die Redaktion hat sie von dem grausamen Mord an einem Wissenschaftler gehört. Noch im Auto versuchte sie, mit Yvonne Béri, einer Mitarbeiterin in der Polizeizentrale, Kontakt aufzunehmen, um herauszufinden, was man mit »grausam« meinte. Yvonne hatte wohl keinen Dienst, und so hinterließ Camille auf der Mailbox ihre Bitte um Rückruf und nahm einen Umweg über die Place Jussieu. Der Platz vor der Université Pierre et Marie Curie war
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