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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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auf blauem Grund. Er kneift die Augen zusammen, jeden Morgen fällt sein erster Blick auf das Airbrush-Bild über der Kommode, gegenüber vom Bett.
    Sue, seine Erinnerung an Nicole. Warum hat er das Bild da hängen, fragt er sich an diesem Morgen zum ersten Mal. Und die Antwort erschüttert ihn. Er will sich bestrafen, will sich jeden Morgen vor Augen führen, was für ein Verlierer er ist. Das Bild hat er auf dem Flohmarkt gekauft, drei Tage nachdem Nicole ausgezogen war. Er ist ein Verlierer, ja, auch wenn man es ihm nicht ansieht. Aber so fühlt er sich, wenn ermorgens im Bus sitzt und zur Bank fährt, und dann den ganzen Tag. Früher wollte er eine Segelschule in Griechenland aufmachen. Doch fünfzehn Jahre später sitzt er immer noch an einem Schreibtisch in einem Büro mit grauem Teppich. Und muss noch froh sein, dass er seinen Job behalten hat. Immerhin, Urlaub und Gehalt erlauben ihm zu reisen – und seinem Hobby nachzuhängen. Wie viel hat er schon gesehen von der Welt – und fotografiert? Ganze Festplatten voller Naturfotos. Galapagos. Madeira. Sibirien.
    Seine Hand verfehlt die Stirn, über die er wischen will, weil er schwitzt, greift daneben, irgendwohin, ans Ohr?
    Etwas stimmt nicht. Sue wird nicht schärfer, und Fat Boy auch nicht. Hangover? Unmöglich von zwei Dosen Bier. Ein plötzliches Augenleiden? Bindehautentzündung? Hat er noch nie gehabt. Wovon auch? Tropenkrankheit? Bis jetzt hat er sich noch nie Malaria eingefangen, obwohl er doch schon ein paar Mal in Afrika war. Vielleicht hat er sich auf der Wanderung zu den Berggorillas in den Virunga-Bergen übernommen? Er wollte die besten Fotos schießen. Natur pur ohne Menschen – und war der Gruppe immer voraus.
    Als er sich aufsetzt, wird es auch nicht besser. Alles hat seine Konturen verloren, ist ausgefranst oder nebulös, als würde sich die Welt vor ihm auflösen.
    Er fasst sich an die Stirn, diesmal trifft er sie, gibt sich einen Schlag auf den Hinterkopf, vielleicht ist es ein Kurzschluss oder eher noch eine Art Wackelkontakt, der gleich behoben ist. Doch da ist dieser Schwindel, seine Hände tasten zum Bettrand, er muss sich festhalten, dann wird es schon aufhören, so was hat er noch nie erlebt. Eine Grippe vielleicht, eine kleine Infektion, redet ihm eine Stimme ein, doch die kann die in ihm aufschießende Angst nicht zurückdrängen. Er braucht … einen Arzt. Einen Notarzt. Irgendetwas passiert mit ihm, und er kann es nicht verhindern, er verliert die Kontrolle über sein Tun und sein Denken, die Gedanken werden holprig, verirrensich auf ihrem Weg von einem Neuron zum nächsten, werden gebremst von einer zähen Masse, die sich in seinem Kopf auszubreiten scheint und alles unter sich begräbt, wie Lava, die aus einem Vulkan fließt, die Dinge, das Leben mit einer dicken Kruste überzieht und erstickt. Er will aufstehen, seine Füße verheddern sich in der Decke, er taumelt, sein Kopf kracht gegen die Kommode. Bilder fliegen aus seinem Kopf, er will sie festhalten, doch sie lassen sich nicht festhalten, sie fliehen vor ihm …
17  
Paris
    Es ist kurz nach neun, als Camille Vernet die schwere und extra gesicherte Tür zur Redaktion aufschließt und sogleich den Code eingibt, um die Alarmanlage abzuschalten. Die Redaktionsräume des satirischen Wochenmagazins Tout Menti! liegen im ersten Stock eines stattlichen, aber etwas heruntergekommenen Hauses in der Rue du Grenier Saint-Lazare. Alle vier Journalisten, die dort fest arbeiten, vereint eine ähnliche Vergangenheit: Sie waren zuvor entweder bei namhaften französischen Zeitungen angestellt, so wie Christian Brousse und Camille Vernet bei Le Figaro, oder sie waren freie Mitarbeiter einer Wochenzeitschrift, wie Annabelle Richard und der Grafiker Lucien Foch. Dann verloren sie ihre Jobs durch die allgemeinen Einsparungen und die Krise. Christian war zudem knapp einer Verleumdungsklage entgangen, weil er einen Politiker namentlich zitiert hatte, der nachträglich vehement bestritt, diese Äußerung gemacht zu haben. Die vier Journalisten wissen, dass Frankreich ein Land ist, das zwar die individuelle Meinungsfreiheit schützt, das aber keine Medienfreiheit in der Verfassung garantiert, genauso wenig wie das Recht, sich ungehindert zu informieren. Allerdings, mit Humor und Ironie und unter der Überschrift Alles erlogen! istalles – fast alles – erlaubt. Und so gründeten die vier Journalisten vor zwei Jahren mit Unterstützung von Christians Vater die Satire-Zeitschrift Tout

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