Die Saat - Ray, F: Saat
absurd!
Lejeune bewegt die Zunge im Mund und lässt ihn nicht aus den Augen.
Er kann und will sich nicht mehr beherrschen. »Was halten Sie davon, wenn Sie mir einfach sagen, weshalb Sie mich hier auf diese Weise verhören?«
Inspecteur Lejeune macht eine besänftigende Handbewegung. Ihm fallen ihre feinen Hände auf. Er kann sich nicht vorstellen, wie sie eine Waffe halten, geschweige denn, den Abzug betätigen.
»Wir haben den Mord an Professor Frost aufzuklären, da müssen wir jeder Spur nachgehen.«
»Gut, dann werden Sie ja sicher auch verstehen, dass ich wissen will, welche Verbindung es zwischen diesem Professor Frost und meiner Frau gegeben hat.«
Ein säuerliches Lächeln formt sich auf Lejeunes Gesicht.
»Monsieur Harris, ich verstehe, es ist nicht leicht für Sie, aber vertrauen Sie uns. Auch der Tod Ihrer Frau wirdpolizeilich untersucht. Und falls Ihnen noch etwas einfällt, das wir wissen sollten, Monsieur Harris, rufen Sie mich an.« Sie legt ihre Karte vor seinen Kaffeebecher. Ein Angebot. Wenn Sie Probleme haben – und ich weiß genau, Sie haben welche –, melden Sie sich.
Anstatt die Karte einzustecken, greift er in die Jackentasche, holt eine Zigarettenschachtel hervor, zieht eine Zigarette heraus und steckt sie in den Mund. Dann erst nimmt er die Karte. Er würde sie am liebsten zerreißen und die Schnipsel vor ihrer Nase auf den Boden rieseln lassen.
»Auf Wiedersehen.«
Sie bleibt sitzen und nickt ihm nur zu, als er aufsteht.
Draußen auf dem Flur riecht es nach scharfem Putzmittel. Manche Stellen auf dem Linoleum sind noch feucht. Er atmet tief ein und merkt, wie ihm das Putzmittel wieder Klarheit im Kopf verschafft. Es ist an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Professor Frost also. Woher kannte ihn Sylvie? Hat er den Namen wirklich noch nie gehört? Gegenüber vom Commissariat leuchtet das Schild eines Cafés.
Er bleibt an der Theke stehen, widersteht dem Reflex, einen dreifachen Whisky zu bestellen, nimmt Kaffee und geht mit seinem Handy online. Er klickt sich ins Verzeichnis der Universität. Irgendwann hat er die Telefonnummer des Sekretariats von Professor Frosts Abteilung. Auch ein Name steht dort: Lorraine Kempf. Er wählt ihre Nummer. Nach fünfmal Klingeln wird abgenommen.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe.«
»Sie sind gut! Sind Sie Journalist?«, hört er eine verärgerte Stimme. Offenbar ist er nicht der Einzige, der sie heute belästigt. Ganz sicher war die Polizei auch schon bei ihr.
»Nein, nein, ich bin … Mein Name ist Ethan Harris. Meine Frau hat sich am Freitagabend mit Professor Frost zum Essen getroffen«, beeilt er sich zu sagen, bevor sie auflegen kann,»und dann hat sie sich umgebracht, und ich … ich wollte wissen, ob …«
Er weiß nicht mehr, was er sagen soll.
»Sylvie Harris?« Verwunderter Ton.
»Ja.« Er ist erleichtert und zugleich unangenehm berührt, denn die beiden scheinen ja noch nicht einmal ein Geheimnis aus ihrer Affäre gemacht zu haben.
»Sie hat sich umgebracht?« Jetzt klingt der Ton ungläubig.
»Ja.«
Pause.
»Madame Kempf?«
»Ja, ja, ich bin noch dran, es ist nur … Und Sie sind …?«
»Ihr Mann. Ethan Harris.«
»Ethan Harris? Der Schriftsteller von Ein Sommer?«
Ist er schon so bekannt? »Ja.«
»Das ist ja … Ich kenne Sie von den Fotos auf dem Umschlag.«
Richtig, das Porträt, Justin hat es im vorletzten Herbst im Jardin du Luxembourg geschossen. Weil dort das Licht so schön ist.
Sie nennt ihm ein Café nur wenige Straßen von seinem Standort entfernt und verspricht, in zwanzig Minuten dort zu sein.
Er lässt das Handy in die Manteltasche gleiten, zahlt und stellt den Kragen hoch. Der Wind ist böig und unberechenbar. Er friert, ihm ist, als wäre seine Körpertemperatur um zehn Grad gefallen.
Lorraine Kempf wartet an einem Tisch schräg hinter der Theke des fast leeren Cafés, vor sich ein Glas Cognac und eine kleine Schüssel Chips. Ethan erkennt sie an ihrem angespannten Blick Richtung Eingang. Ihr schmales Gesicht mit der Goldrandbrille und den schulterlangen Locken ruft ihm sofort das Bild von Professor Frost in Erinnerung. Sie könntedessen zehn Jahre jüngere Schwester sein. Vielleicht hat er sie deshalb eingestellt, weil er narzisstisch war.
»Hallo!« Ihr Lächeln sieht dünn aus. Er zieht den Stuhl zurück und setzt sich ihr gegenüber. Das Hellgrün ihres Pullis lässt ihn an künstlich schmeckendes Pistazieneis denken und an Sekretärinnen mit kleinem Gehalt, von denen
Weitere Kostenlose Bücher