Die Saat - Ray, F: Saat
ziehen. Im Aufzug vermeidet sie, das spiegelnde Metall anzusehen, richtet den Blick auf die Leuchtdioden der Stockwerkzahlen. Ihr Vater hat recht, sie hat in der Tat viel zu tun. Sie und Christian haben sich an der Talkshow-Idee festgebissen, das heißt, sie muss nicht nur interessante, kompetente und möglichst medienwirksame Leute einladen, sie muss sich auch in das Thema einarbeiten. Genetik. Schon in der Schule hat sie das nicht so richtig verstanden.
Im Freien schaltet sie ihr Handy wieder ein. Christian hat ihr eine SMS geschickt. Erste Zusagen!
So schnell. Da will jemand wohl etwas loswerden. Camille spürt das Feuer in sich brennen, es wird langsam größer. Sie will den großen Coup. Sie will endlich raus aus dem Schatten von Christian und aus dem Schatten ihres Vaters und aus dem ihrer Mutter, die ohne Anstrengung, ja ohne Beruf mühelos das Interesse von Männern und Frauen wecken konnte. Egal, wie schrill sich Camille anzog, wie sie sich schminkte, gegen ihre Mutter – und gegen Valéria – ist sie nie angekommen. Und beide haben diesen Triumph ausgekostet. Selbst jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, lebt dieser Triumph fort, jedes Mal, wenn ihr Vater mit leuchtenden Augen und plötzlich wieder mit voller Stimme von ihrer Mutter oder ihrer Schwester spricht. Nun, Valéria ist ja offenbar in Ungnade gefallen.
Sie wird es ihm zeigen. Sie wird es allen zeigen.
20
Ethan ist nichts anderes übrig geblieben, als sofort ins Commissariat zu fahren. Dort hat er sich zu Inspecteur Lejeune durchgefragt. Dann musste er auch noch zehn Minuten auf dem Flur vor ihrem Zimmer warten. Ihr Assistent, ein junger Typ mit einem braven Engelsgesicht und ausgelatschten Sneakers, hat ihn schließlich ins Büro geholt. NATURE steht auf seinem Sweatshirt.
»Sie sind also Schriftsteller, Monsieur Harris?« Die Kommissarin ist nicht aufgestanden, als sie ihm die Hand gegeben hat. Sie könnte die nicht ganz so hübsche Schwester von Isabelle Huppert sein, denkt Ethan. Jetzt taxiert sie ihn mit schmalen Augen über ihren Schreibtisch hinweg, hinter dem sie größer wirkt, als sie wahrscheinlich ist. Sie blinzelt oft, vielleicht ist sie kurzsichtig oder hat trockene Augen. Rötlicher Typ, Sommersprossen, stets ungeduldig, spitzfindig, hartnäckig, gnadenlos. All die Stapel von Papieren und Ordnern auf ihrem Schreibtisch, weiß Ethan, geben dieser Kommissarin Sicherheit, sind Zeichen von Wissen, von der Fähigkeit und dem Willen, zu ordnen, unermesslich Grausames zwischen zwei Pappkartons zu zwängen. Er hat noch immer keine Ahnung, was sie von ihm will.
»Ja.« Ethan erwartet die Frage, was er denn schreibt, die jetzt stets folgt. Da entdeckt er an der linken Schreibtischkante, halb unter einem Stapel, ein Stück eines Buchdeckels. Sein neuester Roman. Ein Sommer. Bereits ins Französische übersetzt. Er hat Inspecteur Lejeune unterschätzt. Sie wird ihm Fallen stellen, ihn in Hinterhalte locken.
»Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen.«
»Kaffee?«
Er wird noch misstrauischer. Sie bietet ihm Kaffee an, also will sie etwas von ihm. Und jetzt lächelt sie sogar, wenn auch dünn. Die Liste ihrer Vorleistungen wird immer länger.
Wie beiläufig blättert sie in ihrer Mappe, setzt eine Lesebrille auf, nimmt sie aber gleich wieder ab, weil sie ihr lästig ist oder weil sie nur Staffage ist, Zeichen, dass sie besonders genau hinsieht und ihr auch Details nicht entgehen.
»Sie sind Australier, Monsieur Harris?«
»Ja.« Warum fragt sie das, das steht ja in seinem Pass. Lejeune kneift ihre Augen mit den sparsam, aber sorgfältig getuschten Wimpern zusammen, bemüht sich erst gar nicht um ein vermittelndes Lächeln und schiebt ihm ein Foto über den Schreibtisch.
»Kennen Sie diesen Mann, haben Sie ihn schon einmal gesehen?«
Ein langes, mageres Gesicht mit einer ausgeprägten Nase und großen Augen, unter denen Tränensäcke hängen, blickt ihm entgegen, eine blonde Locke hängt ihm in die Stirn.
Kopfschüttelnd schiebt er das Foto zurück. »Wer ist das? Müsste ich ihn kennen?«
»Haben Sie heute keine Nachrichten gesehen?«
»Nein, ehrlich gesagt, ist es mir im Moment ziemlich egal, was in der Welt und in unserem Land vor sich geht.«
»Mein Beileid, Monsieur Harris.« Lejeune lehnt sich zurück, als würde sie eine längere Geschichte erwarten. Da kommt auch schon ihre Frage: »Wie haben Sie sich kennengelernt, Sie und Sylvie?«
Sie will wissen, was ihn und Sylvie verbunden hat und ob das ausreichte, um
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