Die Saat - Ray, F: Saat
ist es her. Als er zum ersten Mal in Sylvies Wohnung war, noch mit Gipsbein und ziemlich angeschlagen, hat er sie für den folgenden Samstag – an dem sie ihm den Gips abnehmen wollte – zum Essen eingeladen. Doch sie bedauerte, denn ausgerechnet für jenen Abend sei seit Monaten schon ein Treffen mit ihrem ehemaligen Doktorvater geplant. Hirsch, ja, er hieß Hirsch, an den Namen kann Ethan sich erinnern, und er weiß noch, dass er ziemlich sauer auf diesen Hirsch gewesen ist. Und gestern sagten sie imFernsehen, dass Professor Frost bei diesem Hirsch promoviert hätte, der damals noch an der Universität in Paris gelehrt hat. Auf einmal hat er sich an »Jerry« erinnert. Sylvie hat damals ein paar Mal von einem Jerry gesprochen, einem »Überflieger«, der für Geld alles tun würde. Jerry – Jérôme?
Und warum ist sie dann mit so einem Typen essen gegangen?
Daraufhin hat er im Internet nach Informationen über diesen Professor Hirsch gesucht und ist auf GenØk in Norwegen gestoßen. Was er entdeckte, traf ihn wie ein Schlag. Sylvie ist im Februar für zwei Tage in Norwegen gewesen. Eine Tagung, hat sie gesagt, von wem und wofür hat er sofort wieder vergessen. Plötzlich ist er sich sicher, dass Sylvie diesen Professor Hirsch aufgesucht hat. Warum nur hat sie ihm nichts davon gesagt?
Noch in der Nacht hat er versucht, Hirschs private Telefonnummer herauszubekommen, jedoch nur die im GenØk-Centre for Biosafety gefunden. Dann hat er die Homepage überflogen. GenØk wurde 1998 als nicht-kommerzielle Stiftung gegründet und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Gentechnologie und Genveränderung auf Umwelt und Gesundheit. GenØk betreibt außerdem die Verbreitung von Informationen und bietet Beratungen an. Zurzeit hat das Institut dreiundzwanzig Angestellte. Die meisten arbeiten in Tromsø, weitere Abteilungen gibt es in Christchurch in Neuseeland und Kuala Lumpur in Malaysia.
Er rief in Tromsø an und hatte Glück, dass nachts jemand dort arbeitete. Professor Hirsch sei verreist und käme erst morgen wieder zurück, hieß es.
Ethan wollte nicht untätig sein und nicht warten, bis Hirsch sich vielleicht erst Tage nach seinem Urlaub dazu bereit erklären würde, mit ihm zu reden – oder vielleicht sogar abzulehnen. So hat er kurzerhand einen Flug gebucht. Das heißt, zwei Flüge.
Aamu war unmittelbar vor der Sendung gekommen. »Vielleicht finden wir zusammen etwas heraus?«, hatte sie gesagt und dann, später: »Diesmal lasse ich dich nicht allein fahren.« Dabei legte sie den Arm auf seinen und flüsterte: »Ich habe Angst um dich.«
Die Maschine der Scandinavian Airlines war um 14 Uhr 05 in Paris gestartet. Er hatte zwei Einzelzimmer im Rica Ishavs Hotel für zwei Nächte reserviert. Die zentrale Lage im »Paris des Nordens«, wie es in der Beschreibung hieß, die einzigartige Lage am Tromsø-Fjord, die fantastische Sicht auf den Hafen, die Brücke und die Berge – all das interessierte ihn nicht. Sie würden dort übernachten, und am nächsten Tag würde er Professor Hirsch aufsuchen.
Pünktlich um 16 Uhr 20 setzte die Maschine auf der Landebahn in Oslo auf. Er trank an einer Bar einen Whisky für einen astronomisch hohen Preis und Aamu einen Kaffee. Um 18 Uhr 30 ging es weiter nach Tromsø.
20 Uhr 40. Es ist dunkel, als sie aussteigen. Minus sieben Grad Außentemperatur, hat der Pilot kurz vor der Landung durchgegeben und dass die Stadt knapp dreihundertfünfzig Kilometer nördlich vom Polarkreis liegt.
Ethan ist froh, dass er eine Daunenjacke mitgenommen hat. Aamu schultert ihren kleinen Rucksack und knöpft ihren gesteppten Daunenmantel zu, der ihr fast bis zu den Knöcheln reicht und sie seltsam eingeschnürt aussehen lässt. Über ihren Kopf hat sie die bunte Lappen-Strickmütze gezogen. Was für ein seltsames Paar, denkt er, als sie nebeneinander durchs Flughafengebäude zu den Taxen gehen.
Tromsø liegt auf einer Insel. Der Flughafen befindet sich auf der Nordseite, die Stadt selbst auf der Südseite.
»Fühlst du dich wie zu Hause?«, fragt er Aamu, die stumm aus dem Seitenfenster sieht. Er hat sie aus ihren Gedanken gerissen, stellt er fest, als sie sich zu ihm dreht. »Ein bisschen.«
Warum wollte sie unbedingt mit, wenn sie es jetzt nicht verkraftet?, fragt er sich.
»Du denkst nicht gern zurück …«
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ab. Gut, er muss nicht mit ihr reden.
Von der Landschaft ist nicht viel zu sehen, wie eine schmutzig weiße Wand säumt der Schnee
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