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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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wissen.
    Sie kaut, schluckt und sagt dann ungerührt: »Sie waren nie in Finnland.«
    Einen Moment überlegt er, ob das ein Scherz sein soll. Doch als sie einfach weiterisst, sagt er: »Du hast mir also einfach so ins Gesicht gelogen?«
    »Ich mag Russland nicht. Deshalb habe ich mir Finnland als Heimatland ausgedacht.« Sie pickt noch eine Mandel von ihrem Kuchen, hält sie hochkant zwischen Daumen und Zeigefinger, betrachtet sie, als müsste sie sie prüfen, und nagt dann mit den oberen Schneidezähnen ein winziges Stück ab. »Mein Vater war Wissenschaftler. Und irgendwann wurde er nicht mehr gebraucht. Er hat nicht mehr ganz so funktioniert, hat auf einmal Skrupel gehabt. Man hat ihn entlassen. Er fing an zu trinken. Wodka, bald schon morgens. Wir hätten nur noch ein bisschen warten müssen, dann hätte er sich zu Tode gesoffen mit dem selbst gebrannten Zeug.« Sie sieht ihn an, zögert. Er wartet. »Er hat uns geschlagen. Meine Mutter, meinen Bruder, mich. Er war stark und groß, meine Mutter hat ihn früher medweschonok genannt, kleiner Bär.« Er unterbricht sie nicht. »Eines Tages kam er heim, er hatte mit den Säufern im Ort getrunken, er kam heim, riss die Tür auf, worauf meine Mutter einen solchen Schreck bekam, dass sie die Pfanne vom Herd stieß und das Mittagessen auf dem Boden lag. Mein Bruder war in seinem Zimmer, er sollte drei Tage später zur Armee, und ich, ich saß am Küchentisch, um meine Hausaufgaben zu machen.« Sie sieht ihn wieder an, er weiß nicht, was sie in seinen Augen sucht. Mitgefühl vielleicht, Verständnis für das, was nun folgen wird. »Er hat sich auf meine Mutter gestürzt, sie angebrüllt und ihren Kopf auf der Herdplatte zertrümmert. Ich bin aufgesprungen, da hat er mich genommen, und ich weiß nicht, was passiert wäre, wäre nicht mein Bruder gekommen und hätte ihn – ihn mit dem Schürhaken erschlagen.« Sie weicht seinem Blick nicht aus. »Immer und immer wieder hat er auf ihn eingeschlagen, bis das Gehirn herausquoll«, sie spricht ganz leise, »bis ich seine Hand festgehalten habe. Wir haben das Geld genommen, was wir noch finden konnten, und dann das Haus angezündet.«
    Ein Schauer läuft ihm über den Körper, er sieht, wie die Leichen von den Flammen verzehrt werden, wie sie in derHitze schmoren und schrumpfen, während das Feuer in den schwarzen Himmel steigt und Aamu und ihr Bruder für immer fliehen.
    »Dann war das mit dem Selbstmord deines Bruders auch eine Lüge?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Er hat sich zwei Tage später das Leben genommen.«
    »Und du?«
    »Ich?« Sie sieht zum Fenster, auf die schwarze Wand der Nacht. »Ich bin in eine Besserungsanstalt für Mädchen in Sibirien gekommen.«
    Mein Gott, kann er ihr das alles glauben? »Und dann?«
    »Ich war fünfzehn, blieb drei Jahre und …« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. Er wartet, dass sie weiterspricht, doch sie versenkt sich in den Anblick der nächsten Mandel.
    »Und dann? Wie bist du von Sibirien nach Paris gekommen?«
    Ihr Blick wendet sich ab, schwenkt über die kristallenen Deckenleuchter, die nur noch für sie eingeschaltet sind.
    »Ich wäre gern jemand anders«, sagt sie plötzlich, und ihre gletscherhellen Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz.
    »Du willst mir nicht erzählen, wie du nach Paris gekommen bist?«
    Einen Moment sieht sie ihn schweigend an. Dann öffnet sie den Mund und sagt: »Die Personen in deinen Büchern … Magst du sie alle?«
    »Ich beschäftige mich mit allen. Und – ja, jede Figur hat etwas, das ich mag oder das mir vertraut ist.«
    Sie nickt. »Meinst du, du kannst mich auch noch mögen, nach dem, was ich dir erzählt habe?«
    Was soll er antworten? Dass ihr Geständnis ihn erschüttert hat? Dass er ihr noch mehr misstraut als vorher? Und dass er zugleich Mitleid hat mit ihr? Dass sie ihm leidtut?
    »Es gibt immer Umstände, die einen Menschen verändern, ihn Dinge tun lassen, die er unter anderen Umständen wahrscheinlich nicht tun würde. Man kann Konflikte auf unterschiedliche Art lösen …« Er bricht ab, sie begreift, dass er ausweicht.
    Sie setzt ein Lächeln auf, zuckt mit den Schultern. »Lass uns jetzt von was anderem reden, ich hab dir genug Schreckliches erzählt.«
    »Warum hast du es mir überhaupt erzählt?«
    »Ich dachte, du wolltest wissen, wer ich bin? Was ist, hab ich was Falsches gesagt?« Sie greift nach seiner Hand, er zieht sie weg und schüttelt den Kopf. »Nein. Ist schon okay. Du hast recht, wir sollten von etwas

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