Die Saat - Ray, F: Saat
anderem reden.«
Er sieht ihr zu, wie sie den Rest Kuchen isst und die Gabel weglegt.
»Wir könnten morgen in die Eiskathedrale«, sagt sie und lächelt ihn an. »Sie muss ganz großartig sein!« Sie ist auf einmal glänzender Stimmung, und das befremdet ihn. »Und dann fahren wir mit der Seilbahn auf den Storsteinen, von dort hat man eine wahnsinnige Aussicht auf den Fjord, heißt es.«
»Aamu, ich bin nicht als Tourist da. Du kannst gern dorthin, ich gehe bestimmt nicht.« Er klingt ermahnend, was er hasst, aber im Moment ist es ihm egal.
Sie presst die Lippen aufeinander. »Tut mir leid, sicher, es war nur … es war einfach so ein spontaner … aber ja, du hast recht. Wir müssen zu Professor Hirsch.«
»Ich muss zu Professor Hirsch. Du nicht.«
Wieder greift sie nach seiner Hand, hält sie fest. »Ich gehe mit dir. Deshalb bin ich ja mitgeflogen.«
»Du musst nicht, Aamu. Das ist meine Sache.« Er will den Abend jetzt beenden und steht auf, sie gibt seine Hand frei.
»Gute Nacht. Wir sehen uns morgen, wenn du willst.«
»Ethan?«
Er bleibt stehen.
»Magst du mich denn wenigstens – ein bisschen?« Sie hat geflüstert, und ihm fällt auf, wie traurig sie plötzlich aussieht.
»Ja.«
»Ist das alles?«
»Aamu, ich bin müde. Gute Nacht.«
Sie sieht ihm nach, das spürt er, und doch dreht er sich nicht noch einmal um. Mag er sie?, fragt er sich im Aufzug, der ihn hinauf in den vierten Stock fährt. Irgendetwas verhindert, dass er ein Gefühl zu ihr aufbaut. Es fühlt sich an, als hätte er Eis in den Händen, das schmilzt und ihm entgleitet.
Vom vierten Stock aus bietet sich ihm ein erstaunlicher Blick, nachdem er das Licht ausgeschaltet hat. Ein heller Sternenhimmel spannt sich über den schneebedeckten Gipfel des Storsteinen und über den Fjord, in dem die Boote sanft schaukeln. Er steht eine Weile nur da und sieht hinaus, die Post von heute Morgen in der Hand. Bevor er das Haus verlassen hat, hat er noch den Briefkasten geleert, eilig die Briefe einfach in die Außentasche des Handgepäcks gesteckt. Noch immer kann er nicht fassen, was er da in der Hand hält.
Ein Brief an Sylvie. Mit einer exotischen Briefmarke. Gibraltar.
Er schaltet das Licht wieder an, überprüft noch einmal Adresse und Absender. P. A. Greenfield Bank, Gibraltar.
Im Brief bittet man sie um Bestätigung ihrer Postadresse.
Sie hat ihm nie etwas von einem Konto dort gesagt. Die hundertfünfzigtausend Euro aus dem Erbe ihres Vaters haben sie im Januar in verschiedenen Papieren bei ihren beiden Banken in Paris angelegt. Was, verdammt, hast du noch alles vor mir verheimlicht, Sylvie?
Vielleicht stand ihr Vater mit dieser Bank in Verbindung? Halb zwölf nachts. Mathilde wird schon schlafen. Es ist ihm egal. Wie ist ihre Nummer? Welche Vorwahl hat Spanien? Erruft in der Rezeption an und bittet um die Nummer. Doch wenn Mathilde und Vincent nicht im Telefonbuch eingetragen sind, hat er Pech.
Während er auf einen Rückruf wartet, denkt er an Aamus Frage. Ja, warum tut er das alles? Aus Rache? Damit der Täter bestraft wird? Je weiter er in die Geschichte hineingerät, desto weniger weiß er, wer Sylvie gewesen ist. Soll er nicht aufhören und die Erinnerung an sie bewahren?
Die Angestellte von der Rezeption meldet sich und bedauert, dass sie die Telefonnummer nicht herausfinden kann.
Sein ganzes Leben kann er damit verbringen, nach dem Grund für Sylvies Tod und für ihre gegenseitige Entfremdung zu suchen. Er schaltet das Licht wieder aus. Auf dem Fjord blendet ein Signal auf. Die Steuerlampe eines Bootes vielleicht.
Egal, was er herausbekommen wird, es wird nichts an der Tatsache ändern, dass Sylvie tot ist. Vielleicht wird er nie alles erfahren. Also sollte er nicht seinen Frieden mit dem Schicksal schließen? Es einfach annehmen? Er wendet sich ab von Fjord und Berg, nimmt eine lange heiße Dusche und legt sich dann mit T-Shirt und Boxershorts ins Bett, ohne den Vorhang zuzuziehen. Ein diffuses, bleiches Licht schimmert ins Zimmer.
Zuerst glaubt er, das Geräusch käme aus dem Nebenzimmer. Doch dann identifiziert er es als Klopfen an seiner Tür.
»Ethan?«
Gedanken rasen durch seinen Kopf. Was will sie? Er wird es nicht erfahren, wenn er nicht den Mut hat zu öffnen.
»Moment.«
Das müde Flurlicht entzieht ihrem Gesicht und dem hellgrünen Pulli die Farbe. Sie trägt einen langen weinroten Wickelrock und dicke Socken. Dunkelrot leuchtet ihr Haar. Sibirien – was für ein Leben hat sie geführt? Vorher?
»Ich
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