Die Saat - Ray, F: Saat
die Straße. Im Scheinwerferlicht aufblitzende Schneeflocken wehen an die Scheibe. Die schneebedeckten Berge kann er nicht erkennen. Ethan stellt sich vor, wie man es aushält, wenn es monatelang dunkel ist, und wie es ist, wenn es monatelang nachts nicht dunkel wird. Tiefblau soll der Himmel dann sein, hat er gelesen. Lange kann er die arktische Dunkelheit nicht betrachten, denn der Wagen dringt ein in das beschilderte und beleuchtete unterirdische Straßentunnelsystem von Tromsø, erbaut nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt in Trümmern lag, zerschossen von der deutschen Wehrmacht, und die Menschen in der oberirdischen Kälte erfroren.
»Weißt du, ich verstehe immer noch nicht so ganz, warum du das alles tust. Hast du keinen Freund, niemanden, mit dem du Zeit verbringen willst?«
Ihr Blick bekommt etwas Misstrauisches. »Warum fragst du mich das?«
»Du bist jung, attraktiv – und Sylvie war einfach nur eine Ärztin, auf deren Station du seit Kurzem arbeitest.«
Sie hebt erstaunt die Brauen. Plötzlich grinst sie. »Willst du damit behaupten, ich könnte deine Frau …«
Er sieht sie nur an.
»… klar, ich kannte sie, sie hätte mich ohne Weiteres in die Wohnung gelassen, ich hatte Zugang zu Betäubungsmitteln, habe medizinische Kenntnisse …«
Jedes Wort ein Peitschenhieb, und ich widerspreche nicht.
Sie dreht sich zurück zum Fenster und fragt tonlos: »Sag mir einen Grund, warum ich so etwas tun sollte?«
»Für Geld?« Er zuckt mit den Schultern. »Oder … aus Überzeugung. Vielleicht bist du eine Terroristin, eine Ökoterroristin, ja Mitglied von Nature’s Troops.« Er versucht, belustigt zu klingen, doch sie sieht ihn nur ausdruckslos an.
»Du hast recht, alles wäre möglich.« Sie wendet sich wieder zum Fenster. »Aber nein, ich war es nicht.«
Der Wagen stoppt, der Fahrer dreht sich um. »Wir sind da.«
Als Ethan die Tür öffnet, trifft ihn wieder die beißende Kälte, die er im Taxi vergessen hat.
Das Hotelrestaurant hat längst geschlossen, erfahren sie beim Einchecken, aber in der Bar werde noch Kaffee und Kuchen serviert.
»Kaffee und Kuchen?«, vergewissert sich Ethan, ob er richtig verstanden hat.
»Ja, das ist normal«, erklärt ihm Aamu und schultert ihre Tasche. Sie verzieht immer noch keine Miene, ist anscheinend beleidigt. »Abendessen um fünf und Kaffee und Kuchen um neun.«
»Hast du Hunger?«, fragt er sie.
»Ja.« Ohne zu lächeln, dreht sie sich um und geht zum Restaurant. Er wird das Gefühl nicht los, dass er einen Fehler gemacht hat, Aamu mitzunehmen.
5
Ethan betrachtet sie, wie sie ihm gegenüber in dem leeren Restaurant sitzt. Ein müder Kellner macht sich im Hintergrund am Geschirr zu schaffen, leise dudelt Kaufhausmusik aus unsichtbaren Lautsprechern. Der dunkelrote Teppich schluckt jeden Schritt, jedes Stuhlrücken und jedes zu laute Wort.
Ihr Rollkragenpulli ist grün wie isländisches Gras, denkt Ethan und sofort schwappt eine Erinnerung an dieOberfläche. Die Woche in Island, vor vier Jahren – oder waren es drei? Er schiebt die Bilder weg. Sylvie ist tot.
Aamu fasst sich an die Ohrläppchen, als müsste sie sich vergewissern, dass darin noch die perlmuttfarbenen Muscheln stecken. Er überlegt, ob sie schon öfter Ohrringe getragen hat. Nein, heute ist es das erste Mal. Ihre Lippen glänzen hell, das Licht des Kronleuchters lässt ihr Haar in kräftigem Kupferrot aufleuchten. Ihre Augen flackern.
Heidelbeerkuchen hat sie bestellt und Kaffee. Er nimmt einen Cognac. Zu spät wird ihm klar, dass eine Cognacflasche auf Sylvies Nachttisch stand und Lorraine Kempf Cognac bestellt hat. Er hätte etwas anderes nehmen sollen.
Sie betrachtet zuerst den Kuchen, dann mustert sie Ethan. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Bitte.«
Sie pickt eine Mandel vom Kuchen. »Warum tust du das alles? Du könntest an deinem neuen Roman schreiben. Schriftsteller machen das doch so. Ich meine, sich ausdenken, was wäre wenn, sie müssen nicht wirklich handeln, oder?« Sie knabbert an der Mandel wie ein Eichhörnchen, mit raschen, flinken Bewegungen, die Lippen gespitzt.
»Glaubst du, ich könnte das? Einfach irgendwas schreiben, während Sylvies Mörder frei herumläuft?«
»War nur ’ne Frage.« Sie steckt den Rest der Mandel in den Mund. Nimmt mit der Gabel den Heidelbeerkuchen in Angriff. Er wundert sich, dass sich eine so kleine und zierliche Person solch große Portionen in den Mund schiebt.
»Warum sind deine Eltern aus Finnland weg?«, will er auf einmal
Weitere Kostenlose Bücher