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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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weißt, was ich meine.«
    Nein, weiß er nicht. Er würde sofort sein Leben gegen ihres tauschen. »Und? Wohin geht’s?«
    »Nirgendwohin.« Pierre lehnt sich mit dem dunkelroten Kissen an die geflochtene Terrassenwand und sieht gedankenverloren dem Rauch nach, der in den Himmel aufsteigt. »Die Idee mit dem Bed and Breakfast …«
    »… war super!«
    »Nein. Läuft nicht. Wir hätten es luxuriöser machen müssen, damit die Leute mehr zahlen.« Er schüttelt den Kopf und betrachtet, wie der Glutstreifen seiner Zigarette dicker wird. »Das Geld kommt einfach nicht rein.«
    »Hm.« Also überhaupt kein Grund, neidisch zu sein. Nicolas hat geglaubt, dass er sich hier ein bisschen ausruhen kann, hier, wo niemand ihn vermutet. Jetzt hat er ein schlechtes Gewissen.
    »Ich zahle, das ist klar.«
    Pierre macht eine wegwerfende Handbewegung. »Darum geht’s nicht, Nicolas, das ändert nichts.« Er saugt an der würzigen Zigarette und lässt den Rauch ausströmen. »Kim ist krank. HES, Hypereosinophiles Syndrom, eine sehr seltene Blutkrankheit. In Europa und Amerika gibt es Spezialisten und Medikamente.«
    Krankheit. Tod. Er wollte nichts mehr davon hören. Deshalb ist er doch hergekommen! Er nimmt sich zusammen. »Warum fliegt ihr nicht hin? Ihr könnt in meiner Wohnung …«
    »Nicolas, ich glaube, du kapierst nicht: Wir sind total pleite.« Pierre sieht plötzlich ganz anders aus. Als wäre er um Jahre gealtert. Macht er sich selbst jeden Tag etwas vor?
    Nicolas legt die Essstäbchen auf die noch halb volle Schale Curry. Der Appetit ist ihm vergangen. Pierre hat ihn an die unangenehme Realität erinnert, die er vergessen wollte. Seine dreitausend Euro halten auch nicht ewig.
    »Tut mir leid«, fängt Pierre an. Zu spät, Pierre, denkt Nicolas.
9  
Rouen
    Camille stolpert frierend über den Bahnsteig. Ein feuchter Nebel liegt in der Luft und lastet auf ihren Lungen. Ein unangenehmes Gefühl, als würde die Feuchtigkeit sie langsam von innen ausfüllen und dann ersticken. Außerdem hat sie Hunger und Durst, und sie ist müde. Trotz der Besuchserlaubnis wollte die Direktorin sie nicht zu Regnard lassen. »Sie ist im Hungerstreik. Wir lassen niemanden zu ihr.«
    Nach zwanzig Minuten hatte sie die Direktorin so weit, dass sie Véronique mitteilen ließ, Camille Vernet sei da und wolle mit ihr reden. Véronique wollte sie sehen. »Nur fünf Minuten«, hat die herrische Ärztin gesagt, »die Patientin ist in einem äußerst labilen Zustand.« Dabei hat sie Camille drohend angesehen.
    Dann kam der Schock. Wie Véronique dalag, wie ein schwacher Vogel, die Nase ein spitzer Schnabel. Camille musste sich zu ihr hinunterbeugen, um zu verstehen, was sie sagte.
    Camille steigt in den Wagen, dessen Nummer auf ihrer Reservierung steht, und sucht ihren Platz. Zum Glück ist der Gangplatz daneben frei. Sie legt ihren Mantel ins Fach über den Sitzen, kauert sich ans Fenster und schließt die Augen.

    Sie ist wieder in Bonne Nouvelle, im Krankentrakt, in dem es nach Äther, Desinfektionsmittel und schlechtem Essen riecht. Sie beugt sich zu Véronique Regnard hinunter, zu der zerbrechlichen, blassen Gestalt in einem vergilbten, viel zu groß erscheinenden Metallbett in einem grünlich gestrichenen Raum, den eine Neonröhre in seiner ganzen Schäbigkeit und Hoffnungslosigkeit ausleuchtet. Die Ärztin hängt zwei neue Infusionsflaschen an den Ständer neben dem Bett, verbindet die Schläuche mit der Infusionsnadel in Véroniques Vene am Handgelenk und stellt die Tropfgeschwindigkeit ein. Blau unddick treten die Adern auf Véroniques magerem Arm hervor. Sie hat schon beim ersten Besuch nicht gerade robust ausgesehen, aber das hier ist nur noch ein Schatten der Véronique, die sie kennengelernt hat.
    »Ich wusste, dass Sie nicht lockerlassen«, flüstert Véronique lächelnd und tastet mit ihrer kalten, feuchten Hand nach Camilles Arm, hält sich daran fest wie an einem Geländer.
    »Was haben die mit Ihnen gemacht?«, flüstert Camille zurück, obwohl die Ärztin gerade eben mit einem mahnenden Blick das Zimmer verlassen hat und sie allein sind.
    »Sie wollten mir nicht glauben! Ich habe doch gesagt, sie vergiften uns. Hier drin geht es schneller als bei Ihnen draußen.« Véronique lächelt wieder. Ihre Lippen sind blutleer, fast blau. Wie eine Märtyrerin, schießt es Camille durch den Kopf. Sie sieht die verhungerten, leidenden Figuren in den katholischen Kirchen vor sich, in die ihre Eltern sie und Valéria geschleppt haben. Ihre Mutter

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