Die Saat
in eine ansonsten monotone Filmsequenz hineingeschnitten ist. Es ging viel zu schnell, als dass ihr neun Jahre altes Bewusstsein dieses Bild, das sie nicht verstand, hätte verarbeiten können. Sie konnte nicht einmal sagen, warum sie in Tränen ausbrach.
Ihre Mutter schreckte auf. Sie sah heute sehr hübsch aus, hatte sich extra fürs Theater in Schale geworfen. Sofort tröstete sie Jeanie und wollte wissen, weshalb sie so schluchzte. Jeanie deutete lediglich aus dem Fenster und verbrachte den Rest des Nachhausewegs in den schützenden Armen ihrer Mutter.
Aber der Meister hatte sie gesehen. Der Meister sah alles.
Selbst wenn er - nein,
besonders
wenn er fraß. Seine Nachtsicht, die sich in verschiedenen Grauschattierungen darstellte, reichte außergewöhnlich weit. Hitzequellen registrierte er als glühendes, gespenstisches Weiß.
Zufrieden, wenn auch nicht gesättigt - er war
niemals
gesättigt -, löste er die riesigen Hände von dem Menschen und ließ ihn auf den Schotterboden gleiten. Die Tunnel um ihn herum raunten im Wind, der seinen dunklen Umhang flattern ließ. In der Ferne kreischten Züge auf, als Eisen auf Stahl traf.
Es klang wie der Schrei einer Welt, der die Ankunft des Meisters schlagartig bewusst geworden war.
Täuschung
Canary-Zentrale, Eleventh
Avenue Ecke 27th Street
Am dritten Morgen nach der Landung von Flug 753 nahm Eph Setrakian mit in die Zentrale des Canary-Projektes, die am westlichen Rand von Chelsea, nur einen Straßenzug östlich des Hudson lag. Bevor Eph Canary ins Leben gerufen hatte, hatte das aus drei Räumen bestehende Büro das medizinische Untersuchungsprogramm beherbergt, das die CDC auf dem Gelände des World Trade Center für Arbeiter und freiwillige Helfer durchgeführt hatte - man hatte mögliche Zusammenhänge zwischen den Bergungs- und Wiederaufbauarbeiten und chronischen Atemwegserkrankungen erforscht.
Ephs Stimmung besserte sich, als sie sich dem Gebäude in der Eleventh Avenue näherten. Zwei Streifenwagen und zwei zivile Limousinen mit Behördennummernschildern parkten vor dem Eingang. Endlich zeigte Direktor Barnes den nötigen Einsatz, endlich würden sie die Hilfe bekommen, die sie benötigten. Es war völlig absurd anzunehmen, dass Eph, Nora und Setrakian diese Seuche allein würden bekämpfen können.
Die Bürotür im zweiten Obergeschoss stand offen. Barnes besprach sich gerade mit einem Mann in Zivil, der sich als Special Agent des FBI vorstellte.
»Ihr Timing könnte nicht besser sein, Everett«, sagte Eph. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche.« Er trat an den kleinen Kühlschrank neben der Tür. Reagenzgläser klirrten, als er nach einem Liter Vollmilch griff, den Verschluss öffnete und gierig trank.
»Wer ist das?«, fragte Barnes.
»Das«, sagte Eph und wischte sich den Milchschnurrbart von der Oberlippe, »ist Professor Abraham Setrakian.« Setrakian hielt seinen Hut in der Hand; sein alabasterfarbenes Haar schimmerte unter der Deckenbeleuchtung.
»Es ist so viel passiert, Everett«, fuhr Eph fort und trank einen weiteren Schluck Milch, löschte den quälenden Durst. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«
»Warum fangen wir nicht einfach mit den Toten an, die aus den städtischen Leichenschauhäusern verschwunden sind?«
Eph senkte die Flasche. Einer der Polizisten hatte sich in die Tür gestellt. Ein zweiter FBI-Mann hatte sich vor Ephs Laptop gesetzt und fing an draufloszutippen. »Hey, entschuldigen Sie mal ... «
»Ephraim«, sagte Barnes, »was wissen Sie über die verschwundenen Leichen?«
Eph versuchte, aus der Miene im Gesicht des Leiters der CDC schlau zu werden. Dann warf er Setrakian einen Blick zu, doch der alte Mann zeigte keinerlei Reaktion, sondern stand einfach nur da, den Hut in den knotigen Fingern.
Eph wandte sich wieder seinem Chef zu. »Sie sind nach Hause gegangen.«
»Nach Hause gegangen?« Barnes legte den Kopf schief, als hätte er nicht richtig verstanden.
»Zu ihren Familien.«
Barnes sah den FBI-Agenten an, der seinerseits Eph fixierte. »Sie sind tot«, sagte der Direktor.
»Nein, sie sind nicht tot. Zumindest nicht auf die herkömmliche Weise.«
»Man kann nur auf eine einzige Art und Weise tot sein, Ephraim.«
Eph schüttelte den Kopf. »Nein, inzwischen nicht mehr.«
Barnes machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, dass Sie in letzter Zeit unter starkem Stress stehen, Ephraim. Ich weiß, dass Sie familiäre Probleme haben ... «
»Moment mal«, unterbrach ihn Eph.
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