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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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Leitungswasser.
    Als er das Glas auf die Ablage zurückstellte, bemerkte er eine Bewegung hinter sich. Er wirbelte herum - und da war Gabe, der aus der Dunkelheit ins Bad trat. Wegen der verspiegelten Wände auf beiden Seiten schien es Rudy so, als stünden hundert Gabes vor ihm.
    »Gabe! Himmel, hast du mir einen Scheißschreck eingejagt!«
    Gabe glotzte Rudy mit großen Augen an. Das blaue Blackberrylicht fiel nicht direkt auf ihn und war nur schwach. Sah seine Haut deshalb so dunkel aus? Waren die Augen deshalb blutunterlaufen? Er trug einen dünnen, knielangen schwarzen Hausmantel und nichts darunter. Seine Arme hingen schlaff herab, Hände und Oberkörper waren schmutzbedeckt. Er machte keinerlei Anstalten, seinen Manager zu begrüßen.
    »Was ist mit dir, Mann? Hast du die Nacht in 'nem Kohlenkeller verbracht oder was?«
    Gabe stand einfach nur da, in den Spiegeln unendlich vervielfacht.
    »Du stinkst, Mann«, sagte Rudy und hielt sich die Nase zu. »Wo zum Teufel bist du gewesen?« Er schob das Blackberry näher an Gabes Gesicht. »Junge, Junge, du hast dein Make-up diesmal aber wirklich zu lange draufgelassen.«
    Nun begann das Vicodin zu wirken: Der Raum mit seinen zahllosen Spiegeln dehnte sich wie ein Akkordeon. Rudy bewegte das blaue Licht, und das ganze Bad flackerte. »Hör zu, Mann.« Er war inzwischen leicht verunsichert, weil Gabe überhaupt keine Reaktion zeigte. »Falls du gerade auf 'nem Trip bist, kann ich gern später noch mal vorbeikommen.« Er versuchte, sich links an Gabe vorbei nach draußen zu schieben, aber Gabe trat nicht zur Seite. Er versuchte es noch einmal, doch Gabe weigerte sich einfach, ihm Platz zu machen. Rudy trat einen Schritt zurück und richtete das schwache Licht wieder auf seinen langjährigen Klienten. »Gabe, Mann, scheiße, was ist los mit dir?«
    Bolivar öffnete seinen Hausmantel, breitete die Arme wie Flügel aus und ließ das Kleidungsstück zu Boden gleiten.
    Rudy schnappte nach Luft. Gabes Körper war von oben bis unten grau und ausgemergelt, doch was ihm den Atem raubte, was ihn schwindeln ließ, war der Anblick von Gabes Unterleib. Er war völlig unbehaart und glatt wie der einer Puppe - und die Geschlechtsorgane fehlten.
    Gabes Hand legte sich über Rudys Gesicht. Der Manager war zu perplex, um sich zu wehren. Er sah Gabe breit grinsen - und dann löste sich dieses Grinsen auf, und irgendetwas drang aus seinem Mund. Etwas, das wie eine Peitsche aussah oder wie ...
    »Hey Mann!«
    Die Peitsche schoss heraus - und Rudys Blackberry fiel neben seine zuckenden Füße auf den Badezimmerboden.
    Die neunjährige Jeanie Millsome war mit ihrer Mutter auf dem Nachhauseweg. Sie war überhaupt nicht müde. Ja, nachdem sie
Die kleine Meerjungfrau
am Broadway gesehen hatte, glaubte sie, niemals zuvor in ihrem Leben so wach gewesen zu sein. Jetzt wusste sie wirklich, was sie einmal werden wollte, wenn sie groß war. Nicht mehr Ballettschullehrerin - weil Cindy Veely sich bei einem Sprung zwei Zehen gebrochen hatte -, und auch nicht olympische Turnerin - dafür war das Seitpferd zu gruselig. Nein, sie wollte eine - Trommelwirbel bitte! -
Broadway-Schauspielerin
werden. Sie würde sich das Haar korallenrot färben, in
Die kleine Meerjungfrau
die Rolle der Arielle übernehmen und am Ende den größten und anmutigsten Knicks aller Zeiten vor dem Vorhang machen. Und nach dem donnernden Applaus würde sie ihre jungen Fans begrüßen, allen ein Autogramm auf die Programmhefte kritzeln und lächelnd mit ihnen zusammen für Fotos posieren. Und dann, an einem ganz besonderen Abend, würde sie das höflichste und ernsthafteste neunjährige Mädchen aus dem Publikum heraussuchen und es einladen, ihre zweite Besetzung
und
allerallerbeste Freundin zu werden. Ihre Mutter würde ihre Hairstylistin werden, und ihr Dad, der zu Hause bei Justin bleiben musste, würde ihr Manager sein, genau wie Hannah Montanas Dad. Und Justin ... Justin konnte einfach zu Hause bleiben und Justin sein.
    Und so saß sie, das Kinn in der Hand vergraben, verkehrt herum auf der Sitzbank in der U-Bahn, die in südlicher Richtung unter der Stadt dahinbrauste. Sie sah ihr Spiegelbild in der Scheibe und die Lichter des Wagens hinter ihnen. Manchmal flackerten die Lampen, und in einem dieser kurzen Momente, in denen das Licht ausging, bemerkte sie etwas an einer jener Stellen, wo ein Tunnel in einen anderen mündete. Es blitzte nur kurz an der Schwelle ihres Bewusstseins auf, ähnlich einem beunruhigenden Einzelbild, das

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