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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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sagte ich, etwas verwundert über die Genauigkeit der Frage.
    »Wenn ich mal einen Job habe, will ich auf keinen Fall frei arbeiten.«
    »Und warum nicht?« Ich drehte mich zu ihr.
    »Wer frei arbeitet, sitzt die meiste Zeit zu Hause rum und wartet darauf, dass was passiert.«
    »So ein Quatsch«, sagte ich. »Frei zu arbeiten ist das Paradies, das Beste, was dir passieren kann. Fest bist du ein Sklave, aber als Freier kannst du dir selber einteilen, was du wann machst, musst nie zu irgendwelchen festen Zeiten erscheinen ...«
    »Sag ich doch: Man hängt zu Hause rum.«
    »Ah ja, und du mit deiner grenzenlosen fünfzehnjährigen Erfahrung weißt das natürlich noch aus deiner Zeit, als du mit zwölf als freie Reporterin für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet hast?«
    »Nein, ich weiß das, weil meine Eltern beide frei arbeiten, und die Tatsache, dass sie nirgends pünktlich zu erscheinen haben, dafür sorgt, dass sie mir zu Hause manchmal sehr auf die Nerven gehen.«
    Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
    »Was machen sie denn so? Deine Eltern, mein ich.«
    »Mein Vater hat eine kleine Firma für Marktforschung. Zeitungen, Magazine, so was.«
    »Und er testet die vor allem an dir?«
    »Nein, aber er ist so ... unausgelastet. Er hat sich sogar eine Hängematte ins Haus gehängt.«
    »Dein Vater arbeitet in der Hängematte?«
    »Es ist nicht ganz einfach, in einer Hängematte zu arbeiten, wenn du weißt, was ich meine«, sagte Julia.

    Auf der Autobahn fädelte ich mich ein, wechselte auf die linke Spur und gab Gas. Mir gefiel, wie der Wagen anzog. Nicht schlecht für ’n alten Diesel, dachte ich.
    »Worüber schreibst du so?«
    »Über Menschen und Orte, würd ich mal sagen.«
    »Was für Menschen, was für Orte?«
    »Menschen, die irgendwas machen, was die meisten anderen nicht machen.«
    »Verrückte?«
    Ich sah sie an.
    »In gewisser Weise schon.«
    »Gib mal ein Beispiel.«
    »Ein irrer Amerikaner, der eine Maschine entwickelt hat, die Halluzinationen verursacht, zum Beispiel. Ein Deutscher, der nach Kuba gegangen ist, um eine kommunistische Zeitung zu leiten. Ein Kubaner, der mit zu Booten umgebauten Oldtimern nach Florida flüchten will. Ein Kunsthändler, der sein Vermögen auf einem gefälschten Bild von Gauguin aufgebaut hat. Ein Partymacher aus Hamburg, der ...«
    »Michael Ammer?«
    »Den kennst du?«
    »Ich hab von dieser Partygirlgeschichte gelesen. Was ist das für ein Typ?«
    »Die Art Typ, auf dessen Partys ich dich nicht lassen würde, wenn du meine Tochter wärst«, sagte ich.
    »Und welche Orte?«, fragte sie nach ein, zwei Minuten Pause.
    »Inseln«, sagte ich. »Am liebsten Inseln.«
    Wir ließen Schwerin hinter uns.

    Ich gab es nicht gern zu, aber langsam gefiel es mir, Julia neben mir sitzen zu haben. Sie stellte gute Fragen und schien tatsächlich an Antworten interessiert. Ich nun auch.
    »Was macht man so, als Fünfzehnjährige in Berlin?«
    »Man steht um sechs auf, duscht, frühstückt, setzt sich in die Bahn und fährt eine Stunde lang zur Schule.«
    »Genauer geht es nicht?«
    »Frag halt genauer.«
    »Was machst du nachmittags?«
    »Kennst du die Friedrichstraßenbrücke?«
    »Ja.«
    »Da waren Clara und ich diesen Sommer sehr oft.«
    »Was macht man da so, auf der Friedrichstraßenbrücke, in der teuersten Gegend der Stadt?«
    »Eis essen. Es gibt da so einen Laden, ›Australian‹ heißt der. Der hat das beste Eis. Kostet aber einen Euro pro Kugel.«
    »Wie bezahlt ihr das?«
    »Eltern.«
    »Ihr esst da also euer Eis und dann ...«
    »Gehen wir spazieren oder setzen uns auf die Brücke.«
    »Und trefft euch mit Jungs?«
    »Nö. Wir nahmen Abschied.«
    »Ihr nahmt was?«
    »Abschied. Clara zieht doch nach Hamburg, wusstest du das nicht? Und meine Eltern und ich gehen nächstes Jahr nach Australien, weil es meiner Mutter in Deutschland nicht gefällt.«
    Obwohl da gar nichts war, sah sie raus zum Fenster.
    »Ich nehme an, du willst nicht nach Australien?«
    »Da ist nichts, was ich kenne.«
    »Australien ist sehr schön. Überall Meer, Strände, Sonne ...«

    »Hautkrebs, fremde Sprache, fremde Menschen, giftige Tiere, Haie, vielen Dank.«
    »Wenn du achtzehn bist, kannst du selbst entscheiden und zurück nach Deutschland.«
    »Und bis dahin?«
    Zum ersten Mal verstand ich den Blick, den ich in den letzten Tagen an ihr bemerkt hatte. Den Blick, der mir sympathisch gewesen war. Der Blick, der mich an meine eigene Verlorenheit erinnert hatte, als ich fünfzehn

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