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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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war. An das Ausgeliefertsein an die Erwachsenen, obwohl man selber gerade damit anfing, sich die Welt einzurichten.
    »Und ihr habt wirklich alle ein Handy?«
    »Die meisten schon.«
    »Und warum?«
    »Zum Verabreden halt. Damit ich meinen Vater anrufen kann, wann er mich nach der Schule vom Bahnhof abholen soll. Und damit ich mit Clara in Kontakt bleiben kann.«
    »Vertrag oder Karte?«
    »Karte. Leider.«
    »Und einen iPod hast du auch?«
    »Woher weißt du das?«
    »Irgendwas musst du auf dem Weg zur Schule ja machen. Hol mal raus und spiel mir deine Lieblingslieder vor.«
    Sie kramte in ihrer Tasche herum. Ich versuchte zu erkennen, was sonst noch drin war, aber es war vor allem bunt.
    Sie schloss den iPod ans Autoradio an und drehte, nicht unelegant, am Scrollrad. Es klickte und klickte und klickte.
    Dann erklang ein Lied, das ich kannte.

    »›Diamonds are forever‹ von Shirley Bassey ist dein Lieblingslied? Das ist über zwanzig Jahre länger auf der Welt als du.«
    »Aber es ist ein gutes Lied, oder nicht?«
    »Es ist ein gutes Lied, ja. Woher kennst du es?«
    »Mein Vater hört es sehr oft.«
    »Wenn er in der Hängematte liegt und arbeitet?«
    »Ja«, sie lachte zum ersten Mal so, dass man es hören konnte.
    Wir fuhren durch Deutschland und hörten Shirley Bassey. Manchmal redeten wir, manchmal ließen wir einfach nur dieses komische Land, das gerade über seine Zukunft entschied, an uns vorbeiziehen. Wenn wir redeten, redeten wir über die Bücher, die sie las, eine seltsame Auswahl aus John Sinclair, Kenzaburo Oe und Harry Potter; sie erzählte von Tokyo, wo sie einmal im Jahr ihre Verwandten besuchte; von ihrem ersten Bier, bei dem ihr natürlich schlecht geworden war; sie beschwerte sich ein wenig über ihren Vater, der immer Witze machte, die sie nicht wirklich witzig fand (an ihr Telefon zu gehen und sich mit verstellter Stimme vor ihren Freundinnen als sie auszugeben oder unangekündigt ihr Zimmer zu betreten zum Beispiel). Sie redete von der Fernsehserie » O. C ., California«, die sie manchmal sah, vor allem aber von Clara, die sie sehr vermisse, und davon, dass sie nicht wisse, was sie mit dem folgenden Jahr anfangen solle, wenn ja schon klar sei, dass sie mit ihren Eltern nach Australien gehen müsse.
    Sie redete nicht von Klingeltönen, Videospielen, Popstars oder Musikvideos.
    Ab und zu schrieb Julia kurze Notizen in ein kleines Buch. Ich hätte mir ebenfalls was aufgeschrieben, hätte ich nicht beide Hände am Lenkrad gehabt. Da würden sie auch bleiben, denn ich wollte Julia heil nach Berlin bringen. Ich fand das für die Zukunft des Landes mittlerweile entscheidender als die Bundestagswahl.
    Ich ging etwas runter vom Gas.
    »Bist du verheiratet?«, fragte sie irgendwann.
    »Ich war’s«
    »Und warum nicht mehr?«
    Mein Gott.
    »Wenn ich das wüsste.«
    »Weil du frei arbeitest, vielleicht?«
    Langsam hatte sie mich so weit, dass ich tatsächlich darüber nachdachte, ob das vielleicht der Grund gewesen sein konnte. Einer der Gründe auf jeden Fall. Mein Leben hatte daraus bestanden, viel weg zu sein, um irgendwelche Reportagen zu machen. Wenn ich wieder zu Hause war, schrieb ich diese Reportagen auf und war dann – nun ja, wieder weg. Zeitweise hatte ich meine Frau nicht mehr als zwei, drei Tage im Monat gesehen. Da ich geglaubt hatte, im Auftrag höherer Mächte unterwegs zu sein, war das für mich in Ordnung gegangen: Agent Ihrer Majestät, der Königin.
    »Kann es sein, dass ›frei‹ für dich das denkbar schlechteste Wort ist, Julia?«
    Sie lächelte kurz von der Seite zu mir hoch.
    »Ich wollte auch keine Kinder«, sagte ich dann. Komischerweise kam mir dieser Satz in diesem Moment zum ersten Mal völlig irrsinnig vor. Er kam mir vor wie das Dümmste, was je ein Mensch gesagt hatte.
    »Zumindest damals«, sagte ich.
    Berlin kam näher, und es machte mich ein wenig traurig, dass es sowar. Ich fühlte mich wie in einer Tragikomödie mit Kevin Costner: Ein Typ, der immer stolz auf seine Unabhängigkeit war, ist plötzlich nicht mehr stolz, als er erfährt, dass Abhängigkeiten nicht immer nur Eisenketten bedeuten müssen.

    Diamonds are forever, sang Shirley Bassey.
    Ich weiß nicht, ob Julia auf irgendeine Art und Weise typisch für die Fünfzehnjährigen von heute ist. Ich habe und hatte nie eine Ahnung von irgendeiner »Generation«. Ich weiß nur, dass sie mich mit fast allem, was sie sagte, überraschte. Mag sein, dass sie die Speerspitze in einem Haufen von Idioten ist, einer

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