Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
so viel Kummer hatte bereiten können. Er sehnte sich mit aller Macht nach einer Gelegenheit, ihr zu zeigen, dass er doch stärker war als sie, und diese Sehnsucht war fast so süß wie die Lust.
Sie spielte mit einem Jungen, der ungefähr drei Jahre jünger war als sie. Er wirkte unruhig und ungeduldig; offensichtlich machte ihm das Spiel keinen Spaß. William erkannte die Familienähnlichkeit zwischen den beiden: Der Junge erinnerte ihn mit seiner Stupsnase und dem kurz geschnittenen Haar an die kleine Aliena in seinem Alter. Das muss Richard sein, ihr Bruder, dachte er, der Erbe des Grafentitels.
William ging etwas näher heran. Richard sah kurz auf und blickte ihn an, nur um seine Aufmerksamkeit gleich wieder dem Spiel zuzuwenden. Aliena konzentrierte sich. Das bemalte Spielbrett war wie ein Kreuz geformt und in verschiedenfarbige Quadrate aufgeteilt. Die schwarzen und weißen Spielsteine schienen aus Elfenbein zu bestehen. Offenbar handelte es sich um ein Geschenk, das Alienas Vater seinen Kindern aus der Normandie mitgebracht hatte.
William hatte nur noch Augen für Aliena. Als sie sich ein wenig weiter über das Brett neigte, wölbte sich der Ausschnitt ihrer Tunika vor, und William konnte den Ansatz ihrer Brüste sehen. Ja, sie waren so groß, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sein Mund wurde trocken.
Richard setzte einen Spielstein auf ein anderes Feld. Aliena sagte: »Nein, das darfst du nicht.«
Der Junge protestierte: »Warum nicht?«
»Weil das gegen die Regeln verstößt, du Dummkopf.«
»Ich finde diese Regeln blöd«, gab Richard trotzig zurück. Aliena brauste auf: »Du musst dich aber dran halten!«
»Warum?«
»Das muss man eben. Deshalb.«
»Ich muss gar nichts«, erwiderte er und kippte das Brett um. Die Steine kullerten über den Boden.
Aliena holte blitzschnell aus und verpasste ihm eine Ohrfeige.
Richard schrie empört auf – sein Stolz war ebenso getroffen wie seine Wange. »Du …« Er zögerte. »Du … Teufelshure!«, schrie er dann, drehte sich auf dem Absatz um und lief davon, nur um nach ein paar Schritten heftig mit William zusammenzustoßen.
William packte den Jungen am Arm und hob ihn hoch. »Pass bloß auf, dass kein Priester in der Nähe ist, wenn du deine Schwester mit solchen Ausdrücken beschimpfst«, sagte er.
Richard zappelte hin und her. »Du tust mir weh!«, jammerte er. »Lass mich gehen!«
Erst als der Junge seinen Widerstand aufgegeben und zu weinen begonnen hatte, setzte William ihn wieder ab. Heulend lief Richard davon.
Das Spiel war vergessen. Aliena starrte William an. Die gerunzelten Brauen verrieten ihre Verblüffung. »Wie kommst du denn hier her?«, fragte sie. Die ruhige, besonnene Stimme passte nicht zu ihrer Jugend.
William nahm auf der Bank Platz. Er war sehr zufrieden mit sich selbst: Dem Bengel hatte er es gezeigt. »Ich bin gekommen, weil ich dich sehen wollte.«
Ihre Miene verriet, dass sie jetzt auf der Hut war. »Warum?«, fragte sie.
William setzte sich so, dass er die Treppe zum Gemach des Grafen gut überblicken konnte. In diesem Augenblick kam ein Mann mittleren Alters die Treppe herunter. Er trug die Kleidung eines höhergestellten Bediensteten: eine runde Mütze und eine kurze Tunika aus gutem Tuch. Auf seinen Wink hin erhoben sich ein Ritter und ein Bewaffneter und folgten ihm die Treppe hinauf. William wandte sich wieder an Aliena.
»Ich möchte mit dir reden.«
»Worüber?«
»Über uns beide.« Er sah, wie hinter Alienas Rücken der Diener auf sie zukam. Sein Gang hatte etwas Geziertes an sich. In einer Hand trug er einen Zuckerhut von schmutzig-brauner Farbe, in der anderen eine seltsam urwüchsige Ingwerwurzel. Der Mann war demnach der Haushofmeister, der aus dem streng gehüteten Gewürzschrank im Gemach des Grafen den Tagesbedarf an wertvollen Ingredienzen abgeholt hatte, um sie dem Küchenmeister zu bringen: den Zucker vielleicht zum Süßen von Apfeltörtchen, den Ingwer zur Würze eines Neunaugengerichts.
Aliena drehte sich um und folgte Williams Blick. »Hallo, Matthew!«, rief sie aus.
Der Haushofmeister lächelte, brach ein Stück Zucker ab und reichte es ihr. William hatte den Eindruck, dass Matthew ganz vernarrt in Aliena war. Irgendetwas in ihrem Verhalten musste ihm verraten haben, dass das Mädchen sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte, denn sein Lächeln verwandelte sich unvermittelt in ein besorgtes Stirnrunzeln. »Alles in Ordnung?«, fragte er sie mit weicher Stimme.
»Ja, danke.«
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