Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
er von ihm gelernt. Inzwischen war Walter Pferdeknecht, Gefährte, Leibwächter in einem. Er war so groß wie William, jedoch viel breiter gebaut als er, ein wahrer Kleiderschrank. Neun oder zehn Jahre älter als sein Herr, war Walter immer noch jung genug, um jedem Saufgelage standzuhalten und sich als Schürzenjäger hervorzutun, andererseits aber auch schon so abgeklärt, dass er den jungen William, wenn’s hart auf hart kam, aus der Schusslinie ziehen konnte. Walter war Williams bester Freund.
Obwohl ihm klar war, dass er erneut mit Zurückweisung und Erniedrigung rechnen musste, ergriff William bei dem Gedanken an das bevorstehende Wiedersehen mit Aliena eine merkwürdige Erregung. Der eine kurze Blick in ihre dunklen Augen hatte seine Sehnsucht von Neuem entfacht. Er konnte es kaum erwarten, mit ihr zu sprechen, ihr nahe zu sein, die wilde, wogende Lockenpracht zu sehen und den Bewegungen ihres Körpers unter dem Kleid nachzuspüren.
Die andere Seite der Medaille war, dass die unerwartete Gelegenheit zur Rache auch seinen Hass von Neuem entzündet hatte. Es lag an ihm, die schlimme Demütigung seiner Familie ein für alle Mal vergessen zu machen, und die Aussicht darauf erfüllte ihn mit ungeheurer Spannung. Allerdings hätte er gerne eine etwas deutlichere Vorstellung davon gehabt, was er in Earlscastle eigentlich suchte. Er war sich ziemlich sicher, dass er herausfinden würde, ob an Walerans Geschichte etwas dran war, ließen sich doch Kriegsvorbereitungen auf einer Burg kaum verheimlichen. Da mussten Pferde zusammengetrieben und ausgerüstet, Waffen gereinigt und Vorräte angelegt werden. Freilich: Sich selbst von der Verschwörung zu überzeugen war eine Sache – unwiderlegbare Beweise beizubringen eine ganz andere. William hatte noch nicht die geringste Vorstellung, wie ein echter Beweis auszusehen hatte. Er beschloss daher, einfach die Augen offenzuhalten und die Dinge auf sich zukommen zu lassen; irgendetwas würde sich schon finden. Ein besonders raffinierter Plan war das nicht, und William war sich dieser Schwäche voll bewusst. Heimliche Zweifel beschlichen ihn, und er fürchtete, die einmalige Gelegenheit zur Rache könne schließlich doch noch ungenutzt verstreichen.
Je näher er Earlscastle kam, desto beklommener ward ihm zumute. Was ist, wenn sie mich gar nicht erst in die Burg hineinlassen, fragte er sich in einem Anfall von Panik, und es kostete ihn ein paar Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Eine Burg war ein allgemein zugänglicher Ort. Sie ohne Begründung zu schließen wäre einer öffentlichen Bekanntmachung der Verschwörung gleichgekommen.
Während in der Burg von Shiring der Grafschaftsvogt residierte, lebte Graf Bartholomäus ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Das kleine Dorf, das rund um die Mauern seiner Burg entstanden war, nannte sich Earlscastle. Zum ersten Mal sah William den Ort aus der Perspektive des Angreifers.
Ein breiter und tiefer Burggraben, wie eine Acht mit einem kleinen oberen und einem großen unteren Kreis geformt, umgab die Anlage. Das Erdreich, das beim Ausheben der Gräben angefallen war, hatte man innerhalb der beiden Ringe zu hohen Wällen aufgeschüttet. Den einzigen Zugang zur Burg bildeten am Grund der Acht eine Brücke über den Graben und eine daran anschließende Bresche im Wall. Der obere Ring, gewissermaßen das Allerheiligste, war nur über den unteren sowie über eine weitere Brücke zu erreichen.
Es herrschte reges Kommen und Gehen, als William und Walter über das freie Feld, das Burg und Dorf umgab, auf die Anlage zutrabten. Zwei Bewaffnete auf schnellen Pferden überquerten gerade die Brücke und galoppierten in verschiedenen Richtungen davon, und unmittelbar vor den beiden Neuankömmlingen betraten vier fremde Reiter die Burg.
William bemerkte, dass sich der letzte Abschnitt der Brücke in das gewaltige steinerne Torhaus hochziehen ließ. Die Wälle waren in regelmäßigen Abständen mit steinernen Wachtürmen versehen, sodass im Verteidigungsfall das gesamte Umfeld von Bogenschützen bestrichen werden konnte. Wer diese Burg erstürmen will, muss sich auf einen langen und blutigen Kampf gefasst machen, dachte William bedrückt, und es ist keineswegs sicher, ob wir die dafür erforderlichen Truppen zusammenbekommen.
Im Augenblick dachte natürlich kein Mensch daran, die Zugbrücke hochzuziehen. Die Burg war offen, und die Wache im Torhaus ließ William und Walter anstandslos passieren. Im unteren Ring, der durch die Erdwälle
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