Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
verschiedene Melodien. Der Graf hielt die Augen geschlossen und schien sich ganz in der Musik zu verlieren. Jack hingegen mochte die sehnsuchtsvollen, melancholischen Klänge nicht; ihm waren die frohen Lieder, die er von seiner Mutter kannte, lieber. Den anderen Menschen im Saal erging es anscheinend ähnlich. Sie rückten unruhig auf den Bänken hin und her, und als die Musik endlich vorbei war, herrschte allgemeine Erleichterung.
Jack hatte gehofft, Aliena noch aus der Nähe anschauen zu können, wurde jedoch enttäuscht. Die Tochter des Grafen verließ den Saal, gleich nachdem die Musik verklungen war, und stieg wieder die Treppe hinauf. Wahrscheinlich hat sie dort oben ihr eigenes Schlafzimmer, dachte Jack.
Die Kinder und ein paar Erwachsene verbrachten den Abend beim Schach- und Damespiel, während geschäftigere Naturen die freie Zeit vor dem Schlafengehen zur Herstellung von Gürteln, Mützen, Socken, Handschuhen, Schüsseln, Pfeifen, Würfeln, Schaufeln und Pferdepeitschen nutzten. Jack spielte einige Partien Schach, die er samt und sonders gewann, verlor dann aber gegen ein fremdes Kind beim Damespiel und geriet darüber so in Wut, dass ihm seine Mutter das Weiterspielen verbot. Da trieb er sich dann ziellos im Saal herum und horchte, was die Leute einander zu sagen hatten. Einige führten vernünftige Gespräche über Ackerbau und Tiere, Bischöfe und Könige, andere neckten einander, prahlten oder erzählten lustige Geschichten. Jack fand das eine wie das andere ungemein spannend.
Die Binsenlichter brannten schließlich herunter, der Graf zog sich zurück, und wenig später wickelten sich auch die letzten der sechzig oder siebzig Personen im Saal in ihre Mäntel und Umhänge und legten sich auf dem strohbedeckten Boden zur Ruhe.
Tom und Jacks Mutter legten sich, wie immer, gemeinsam nieder, und Ellen umarmte Tom so, wie sie früher einmal den kleinen Jack umarmt hatte. Neidisch sah der Junge ihnen zu. Er hörte, wie sie miteinander sprachen und wie seine Mutter auf einmal verhalten kicherte. Nach einer Weile fingen ihre Körper unter den Kleidern an, sich rhythmisch auf und ab zu bewegen. Als er sie zum ersten Mal dabei beobachtet hatte, war Jack furchtbar besorgt gewesen, denn was immer es war, es sah so aus, als müsse es ihnen sehr wehtun. Aber dann war ihm aufgefallen, dass sie sich dabei küssten, und Mutter stöhnte zwar gelegentlich, aber gewiss nicht vor Schmerz, dessen war er sich ganz sicher. Er wusste nicht warum, aber er scheute sich, sie darüber auszufragen. Jetzt sah er auf einmal im matten Licht des heruntergebrannten Feuers ein anderes Paar, das sich genauso verhielt, und schloss daraus, dass es sich um eine ganz normale Sache handeln musste. Noch so ein Rätsel, dachte er und war kurz darauf fest eingeschlafen.
Die Kinder erwachten schon früh am Morgen, doch durfte das Frühstück erst aufgetragen werden, wenn die Messe gelesen war, und die Messe konnte erst gelesen werden, wenn der Graf aufgestanden war. So blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Ein Diener, der ebenfalls schon in aller Frühe auf den Beinen war, trug ihnen auf, das Feuerholz für den beginnenden Tag heraufzuholen. Die Erwachsenen regten sich, als kalte Morgenluft durch die offenstehende Tür drang. Kaum hatten die Kinder genug Holz herbeigeschafft, da begegnete ihnen Aliena.
Sie kam die Treppe herab wie am Abend zuvor, sah aber ganz anders aus. Sie trug eine kurze Tunika und Filzstiefel. Die wilden Locken waren zurückgebunden und ließen den weißen Hals, die kleinen Ohren und die elegant geschwungenen Wangen frei. Die großen dunklen Augen, die am vergangenen Abend noch so ernst und erwachsen gewirkt hatten, funkelten lustig. Hinter Aliena kam der Junge die Treppe herunter, der beim Abendessen neben ihr gesessen hatte. Er war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Jack, aber längst nicht so groß wie Alfred. Neugierig sah er die drei ihm unbekannten Kinder an, doch war es Aliena, die als Erste das Wort ergriff. »Wer seid ihr?«, fragte sie.
»Mein Vater ist Steinmetz und wird die Burg ausbessern«, gab Alfred ihr zur Antwort. »Ich bin Alfred. Meine Schwester heißt Martha. Der da heißt Jack.«
Jack merkte, dass Aliena nach Lavendel duftete, und verging fast vor Ehrfurcht. Wie war es möglich, dass jemand nach Blumen roch?
»Wie alt bist du?«, fragte Aliena Alfred.
»Vierzehn.« Auch Alfred war von großer Scheu ergriffen, Jack konnte es ihm ansehen. Es kostete Toms Sohn einige
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