Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
beiden noch vor dem Eingang überholten. Sie saßen ab und überquerten die Holzbrücke vor dem Torhaus zu Fuß. Da außer den Wachposten alle Burgbewohner bei der Frühmesse waren, mussten sich die Besucher gedulden, bis sie ihre Anliegen vorbringen konnten.
Jack sprang erschrocken auf, als hinter ihm plötzlich eine Stimme ertönte. »Hier hast du dich also versteckt!« Es war seine Mutter. Er drehte sich nach ihr um. Ellen erkannte sofort, dass ihren Sohn etwas bedrückte. »Was hast du denn?«, fragte sie.
Er hätte sich am liebsten von ihr trösten lassen, überwand sich jedoch und fragte statt dessen: »Habe ich einen Vater?«
»Ja«, antwortete Ellen. »Jeder Mensch hat einen Vater.« Sie kniete neben ihm nieder.
Er wandte sich von ihr ab. Es ist ihre Schuld, dass sie mich so gedemütigt haben, dachte er. Warum hat sie mir nie etwas von meinem Vater erzählt? »Was ist mit ihm geschehen?«
»Er ist gestorben.«
»Wann? Als ich klein war?«
»Du warst noch nicht geboren.«
»Wie kann er dann mein Vater sein?«
»Kinder entstehen aus einem Samen. Der Same kommt aus dem Glied des Mannes und wird in die Spalte der Frau gepflanzt. Dann wächst er im Bauch der Frau zum Kind heran. Wenn das Kind fertig ist, kommt es heraus.«
Jack brauchte eine Weile, um die Neuigkeit zu begreifen. Hatte das vielleicht mit den nächtlichen Bewegungen unter den Mänteln zu tun? Nach einer Pause fragte er sie: »Pflanzt Tom auch einen Samen in dich?«
»Kann sein.«
»Dann wirst du wieder ein Kind bekommen.«
Sie nickte. »Ein Brüderchen für dich – was hältst du davon?«
»Mir egal«, sagte Jack. »Tom hat dich mir sowieso schon weggenommen. Bruder hin, Bruder her, darauf kommt es auch nicht mehr an.«
Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. »Niemand wird mich dir wegnehmen, niemals!«
Jetzt ging es ihm wieder ein bisschen besser.
Ellen setzte sich neben ihren Sohn. Nach einer Weile sagte sie: »Es ist kalt hier draußen. Lass uns zurückgehen. Wir können uns vor dem Frühstück noch ein wenig am Feuer wärmen.«
Jack nickte. Sie standen auf und rannten die Wallböschung hinunter. Von den vier Besuchern war nirgendwo etwas zu sehen. Vielleicht waren sie in die Kapelle gegangen.
Auf der Brücke zum oberen Ring fragte Jack seine Mutter: »Wie hat mein Vater denn geheißen?«
»Jack, wie du«, antwortete sie. »Die Leute nannten ihn Jack Shareburg.«
Das gefiel ihm. Er hatte den gleichen Namen wie sein Vater. »So kann ich mich Jack Jackson nennen, wenn ich einmal einem anderen Jack begegne, oder?«
»Ja, das kannst du. Die Leute nennen einen allerdings nicht immer so, wie man es sich wünscht. Aber versuchen kannst du es auf jeden Fall.«
Jack nickte. Es tat ihm gut. Von nun an konnte er sich selbst als Jack Jackson fühlen und brauchte sich nicht mehr so zu schämen. Wenigstens weiß ich jetzt, was es mit den Vätern auf sich hat, dachte er. Und ich weiß, wem ich meinen Namen verdanke – Jack Shareburg …
Sie erreichten das Torhaus der inneren Burg. Nirgendwo war ein Wachposten zu sehen. Ellen blieb stehen. »Ich habe das dumpfe Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt«, sagte sie und kniff die Brauen zusammen. Ihre Worte klangen ruhig und besonnen, aber Jack spürte die Angst in ihrer Stimme und fürchtete Schlimmes.
Seine Mutter betrat die Wache im Erdgeschoss des Torhauses. Gleich darauf hörte Jack, wie sie vor Schreck den Atem anhielt, und sah, wie ihre rechte Hand zum Mund fuhr. Er folgte ihr in den kleinen Raum. Sie starrte auf den Boden.
Der Wachposten lag flach auf dem Rücken, die ausgestreckten Arme waren schlaff. Seine Kehle war durchgeschnitten, und auf dem Erdboden neben seinem Hals hatte sich eine frische Blutlache gebildet.
Der Mann war zweifellos tot.
+++
Gegen Mitternacht waren William Hamleigh und sein Vater in Begleitung von fast hundert Rittern und berittenen Bewaffneten (sowie Mutter Hamleigh in der Nachhut) aufgebrochen. Mit Donnergetöse rumpelte die Streitmacht, die ihre Gesichter der Kälte wegen verhüllt hatte und ihren Weg mit Fackeln beleuchtete, durch die Dörfer, zum namenlosen Entsetzen der Bewohner. Es war noch pechschwarze Nacht, als sie die Kreuzung erreichten. Sie saßen ab und führten fortan ihre Pferde am Zügel, zum einen, damit die Tiere sich erholen konnten, zum anderen, weil sie auf diese Weise wesentlich leiser vorankamen. Als der Tag heraufdämmerte, verbargen sie sich in den Wäldern vor der offenen Feldflur, in deren Mitte die Burg des
Weitere Kostenlose Bücher