Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
ihn an die Lippen und trank. Tom, der selbst nur einen kleinen Schluck getrunken hatte, war davon ausgegangen, der Krug käme wieder zu ihm zurück; Alfred indessen sah nicht so aus, als wolle er ihm noch etwas übriglassen. Und dann geschah auf einmal etwas Merkwürdiges. Als Alfred den Krug immer höher hob, um ihn bis auf den letzten Tropfen zu leeren, fiel ihm plötzlich etwas ins Gesicht.
Erschreckt schrie Alfred auf, ließ den Krug fallen und wischte sich mit einer raschen Handbewegung das weiche, flaumige Etwas aus dem Gesicht. »Was ist das?«, kreischte er. Das Ding war auf den Boden gefallen, und Alfred starrte es, vor Ekel zitternd, an. Er war käsebleich im Gesicht.
Alle starrten sie auf den Boden. Es war der tote Zaunkönig.
Tom warf Ellen einen schnellen Blick zu, dann sahen sie beide Jack an. Der hatte den Krug von Ellen entgegengenommen und sich rasch umgedreht, um Alfreds Attacke zu entgehen, um ihm kurz darauf mit überraschender Bereitwilligkeit den Krug zu überreichen …
Und da stand er jetzt und blickte den entsetzten Alfred an. Auf seinem jungen und doch schon so alten Gesicht lag ein sanftes, zufriedenes Lächeln.
Jack wusste, dass er für seinen Streich würde büßen müssen. Alfred wird sich irgendwie rächen, dachte er, wird mir vielleicht, wenn von den anderen gerade niemand hinsieht, in den Magen boxen … Das war einer von Alfreds Lieblingsschlägen, denn er war einerseits sehr schmerzhaft und hinterließ andererseits keine sichtbaren Spuren. Jack hatte schon mehrfach beobachtet, wie Alfred Martha auf diese Weise misshandelte.
Trotzdem – die Sache hatte sich gelohnt. Alfreds entsetzte, angstverzerrte Miene, als der tote Vogel ihm ins Gesicht fiel – dafür ließ sich sogar ein Schlag in den Magen verschmerzen …
Alfred hasste Jack, und dass man ihn hassen konnte, war für Jack eine vollkommen neue Erfahrung. Seine Mutter hatte ihn stets geliebt, und andere Menschen, die ihm Gefühle entgegenbrachten, hatte er nie gekannt. Einen verständlichen Grund für Alfreds Feindseligkeit gab es nicht, zumal er sich Martha gegenüber ganz ähnlich verhielt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit kniff oder zwickte er sie, zog sie an den Haaren oder stellte ihr ein Bein. Wenn Martha an etwas Gefallen fand, gab es für Alfred nichts Schöneres, als ihr die Freude daran zu vergällen. Ellen konnte sein Benehmen nicht ausstehen; sein Vater hingegen tat, als hielte er es für die normalste Sache der Welt, und das, obwohl er selbst ein netter und freundlicher Mann war, der Martha zweifellos sehr gern hatte. Jack konnte das nicht begreifen. Trotzdem – oder gerade deswegen – fand er es hochinteressant.
Alles war interessant. Nie zuvor hatte Jack eine so aufregende Zeit erlebt. Trotz Alfred, trotz seines ständig knurrenden Magens und obwohl er darunter litt, dass sich seine Mutter viel mehr um Tom kümmerte als um ihn, war Jack von der Flut der auf ihn einströmenden neuen Erfahrungen und Ereignisse wie gebannt.
Das vorläufig letzte Wunder war diese Burg. Jack hatte natürlich schon viel von Burgen gehört: An langen Winterabenden im Wald hatte seine Mutter ihm Chansons beigebracht, französische Verserzählungen über Ritter und Zauberer, von denen manche Tausende von Zeilen umfassten. Burgen waren in diesen Erzählungen Stätten der Zuflucht und der Liebe. Und da er nie eine Burg mit eigenen Augen gesehen hatte, stellte er sich darunter so etwas wie eine vergrößerte Version der eigenen Wohnhöhle vor.
Wie anders sah jetzt die Wirklichkeit aus! So riesengroß, mit so vielen Gebäuden und vielen, vielen Menschen, die alle einer bestimmten Beschäftigung nachgingen … Die einen beschlugen Pferde, die anderen holten am Brunnen Wasser, wieder andere fütterten Hühner oder backten Brot. Und immer wieder kamen Leute, die etwas trugen oder schleppten – Stroh für die Lager, Feuerholz, Mehlsäcke, Stoffballen, Schwerter, Sättel, Post. Tom erklärte ihm, dass der Burggraben und die Wälle keine natürlichen Bestandteile der Landschaft waren, sondern von Dutzenden von Männern in gemeinsamer Arbeit geschaffen worden waren. Jack zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt seiner Worte, konnte sich aber nicht vorstellen, wie diese Arbeit im einzelnen vor sich gegangen war.
Am Spätnachmittag, als es für die Arbeit langsam zu dunkel wurde, strebten die fleißigen Menschen alle zum großen Saal des Wohnturms. Binsenlichter wurden entzündet und das Feuer neu entfacht. Selbst die Hunde flohen
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