Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Engel – vielleicht hatte er Alfred provoziert. Der Baumeister sah sich um und erblickte seinen Sohn unter den Arbeitern, die zum Refektorium strömten. »Alfred!«, brüllte er. »Komm her!«
Alfred drehte sich um und kam langsam näher. Das schlechte Gewissen war ihm anzusehen.
»Warst du das?«, fragte Tom und deutete auf Jack.
»Er ist von einer Mauer gefallen«, sagte Alfred verdrossen.
»Hast du ihn geschubst?«
»Ich war hinter ihm her.«
»Wer hat angefangen?«
»Jack hat mich beschimpft.«
Jacks geschwollene Lippen bewegten sich. »Ich hab ihn ein Schwein geheißen, weil er unser Brot weggenommen hat.«
»Brot?«, fragte Tom. »Wie kommt ihr denn vor dem Frühstück zu Brot?«
»Bruder Bernard, der Bäcker, hat es uns gegeben. Wir haben Brennholz für ihn geschleppt.«
»Ihr hättet das Brot mit Alfred teilen sollen«, meinte Tom.
»Hätt ich ja auch.«
»Und warum bist du dann weggelaufen?«, fragte Alfred.
»Ich wollte es Mutter zeigen!«, rief Jack entrüstet. »Und da ist Alfred gekommen und hat es mir weggefressen.«
Aus vierzehnjähriger Erfahrung im Umgang mit Kindern wusste Tom, dass es aussichtslos war, im Nachhinein herausfinden zu wollen, wer bei einem Streit der Schuldige war. »Ab mit euch zum Frühstück«, sagte er. »Und wenn ihr euch heute noch einmal kabbelt, dann siehst du, Alfred, heute Abend genauso aus wie Jack, dafür trage ich Sorge. Und jetzt haut ab, alle drei!«
Die Kinder verdrückten sich.
Tom und Ellen gingen langsam hinter ihnen her. Kaum waren sie außer Hörweite, da fragte Jacks Mutter: »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
Tom sah sie an. Ellen war noch immer aufgebracht – doch was sollte er tun? Er hob die Schultern. »Das ist doch dasselbe wie immer. Unschuldslämmer sind sie beide nicht.«
»Tom! Wie kannst du so etwas sagen?«
»Der eine ist so schlimm wie der andere.«
»Alfred hat ihnen ihr Brot weggenommen, und Jack hat ihn ein Schwein geheißen. So etwas darf doch nicht mit Blutvergießen enden.«
Tom schüttelte den Kopf. »Jungen prügeln sich immer. Man könnte sein ganzes Leben damit vertun, ihre Streitereien schlichten zu wollen. Sie sollen das unter sich ausmachen.«
»Nein, Tom, das genügt mir nicht«, erwiderte Ellen mit einem drohenden Unterton in der Stimme. »Sieh dir Jacks Gesicht an und dann Alfreds. Das war keine harmlose Rauferei unter Kindern mehr, sondern der bösartige Überfall eines ausgewachsenen Mannsbilds auf einen kleinen Jungen.«
Tom konnte diese Argumentation nur schwer ertragen. Ein Waisenknabe war Alfred gewiss nicht, doch das galt ja für Jack genauso. Ich kann nicht zulassen, dass Jack zum verwöhnten Hätschelkind der Familie wird, dachte er. »Alfred ist kein ausgewachsenes Mannsbild. Er ist gerade mal vierzehn Jahre alt. Aber immerhin arbeitet er und leistet damit – im Gegensatz zu Jack – einen Beitrag zu unserem Lebensunterhalt. Jack spielt den ganzen Tag – wie ein Kind. Nach meinem Dafürhalten sollte er Alfred einen gewissen Respekt entgegenbringen, was er aber, wie du mir wohl bestätigen kannst, nicht tut.«
»Das ist mir vollkommen gleichgültig!«, fauchte Ellen. »Du kannst mir erzählen, was du willst – ich sehe nur eines: Mein Sohn ist verletzt und hätte sich ohne Weiteres auch den Hals brechen können. Das lasse ich nicht zu! « Sie brach in Tränen aus. Mit ruhigerer Stimme, aber immer noch wütend, fügte sie hinzu: »Jack ist mein Kind. Ich ertrage es nicht, ihn in solch einem Zustand zu sehen.«
Tom hatte Verständnis für sie und hätte sie gerne getröstet, fürchtete sich andererseits aber davor, zu nachgiebig zu erscheinen. Er hatte das Gefühl, die Auseinandersetzung mit Ellen könnte ein Wendepunkt sein. Jack war, da er immer nur mit seiner Mutter zusammengelebt hatte, ein sehr behütetes, ja ein überbehütetes Kind. Tom sah nicht ein, dass er eines besonderen Schutzes gegen die Widrigkeiten des täglichen Lebens bedurfte. Ließ man ihm das durchgehen, so schaffte man einen Präzedenzfall, der auf Jahre hinaus zu ständig neuem Ärger Anlass geben würde. Im Innern seines Herzens wusste der Baumeister, dass Alfred diesmal zu weit gegangen war, und er war auch entschlossen, ihm ins Gewissen zu reden. Aber er hielt nichts davon, dies jetzt anzusprechen. »Prügel gehören zum Leben«, sagte er zu Ellen. »Jack muss lernen, sie entweder zu ertragen oder zu vermeiden. Ich kann nicht die ganze Zeit hinter ihm her sein und ihn beschützen.«
»Vor diesem Raufbold
Weitere Kostenlose Bücher