Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
erzählt, so wäre ihm der Vorwurf, er kommuniziere mit einem Geist, nicht erspart geblieben … Ein Schwarm von Priestern hätte sich über ihn hergemacht und ihn mit Weihwasser und Exorzismus traktiert. Tom hingegen wusste genau, dass ihm nichts Übernatürliches widerfuhr. Er kannte Agnes eben so gut, dass er sich ihre Worte und Gefühle in praktisch jeder beliebigen Situation vorstellen konnte.
Agnes besuchte ihn ohne Vorankündigung und zu den merkwürdigsten Zeiten. Einmal schälte er mit seinem Essmesser gerade eine Birne für Martha, da sah er plötzlich Agnes vor sich, sah, wie sie sich über ihn lustig machte, weil es ihm nicht gelang, die Schale in einem einzigen, ungebrochenen Streifen zu entfernen. Auch beim Schreiben musste er immer an sie denken, denn sie hatte ihm alles beigebracht, was sie selbst bei ihrem Vater, dem Priester, gelernt hatte – wie man beispielsweise eine Feder spitzte oder cementarius buchstabierte, das lateinische Wort für ›Baumeister‹. Wenn er sich am Sonntag das Gesicht wusch und sich den Bart einseifte, fiel ihm ein, wie Agnes ihm, als sie jung verheiratet waren, erklärt hatte, dass das Gesicht bei regelmäßiger Bartwäsche von Läusen und Geschwüren verschont blieb. Kein Tag verging ohne die eine oder andere lebhafte Erinnerung an Agnes, oft aus den nichtigsten Anlässen.
Tom wusste sehr wohl, was er an Ellen hatte, und es bestand nie die Gefahr, dass er ihre Gegenwart als selbstverständlich betrachtete. Ellen war einzigartig. Sie hatte etwas Ungewöhnliches, Unfassbares an sich – und gerade dies machte ihren besonderen Reiz aus. Er war ihr dankbar, dass sie ihn an jenem Morgen nach Agnes’ Tod in seiner tiefen Trauer getröstet hatte. Manchmal allerdings wünschte er insgeheim, er wäre ihr erst ein paar Tage und nicht schon wenige Stunden, nachdem er seine Frau unter die Erde gebracht hatte, begegnet; er hätte dann ein wenig Zeit gehabt, in stiller Einsamkeit um Agnes zu trauern. Eine vorgeschriebene Trauerzeit hätte er gewiss nicht eingehalten – das war etwas für Mönche und höhere Herrschaften, nichts für den einfachen Mann. Aber er hätte, bevor er sich an das neue Leben mit Ellen gewöhnte, in Ruhe von Agnes Abschied nehmen und sich mit ihrem Fortsein abfinden können. In den ersten Tagen nach Agnes’ Tod waren ihm solche Gedanken nicht gekommen. Da hatte die ständige Angst vor dem Hungertod in Verbindung mit dem erregenden neuen Liebestaumel eine Art übersteigerter Endzeitstimmung in ihm hervorgerufen. Doch seitdem er wieder Arbeit und Brot hatte, spürte er Gewissensbisse. Und manchmal war ihm, als trauere er nicht bloß Agnes nach, sondern auch seiner eigenen Jugend. Es gab kein Zurück mehr. Nie wieder würde er so jung und unerfahren, so aggressiv, lebenshungrig und stark sein wie damals, als er sich in Agnes verliebt hatte.
Er schluckte den letzten Bissen Brot herunter, verließ vor den anderen das Refektorium und begab sich zum Kreuzgang. Er war zufrieden mit der Arbeit, die er dort geleistet hatte: Kaum vorstellbar, dachte er, dass der quadratische Platz noch vor drei Wochen unter einem riesigen Schutthaufen begraben lag. Nur noch einige zersprungene Pflastersteine, für die er keinen Ersatz gefunden hatte, zeugten von der Katastrophe.
Allerdings war der Kreuzgang noch immer arg verstaubt. Ich werde ihn noch einmal ausfegen und mit Wasser ausspülen lassen, dachte er. Langsam wanderte er durch die Ruine. Im nördlichen Querhaus entdeckte er einen geschwärzten Balken. Ein paar Wörter waren in den Ruß geschrieben. Es gelang ihm, sie zu entziffern: ›Alfred ist ein Schwein.‹ Das war es also gewesen, was Alfred so in Rage gebracht hatte. Eine ganze Menge Holz vom Dachgebälk war nicht zu Asche verbrannt. Überall lagen noch solche geschwärzten Balken herum. Ich werde ein paar Leute beauftragen, das Holz einzusammeln und in den Brennholzschuppen zu bringen. ›Seht zu, dass die Baustelle ordentlich aussieht‹, hätte Agnes angesichts des bevorstehenden hohen Besuchs gesagt. ›Sie sollen merken, dass sich die Einstellung Tom Builders gelohnt hat.‹ – Du hast recht, meine Gute, dachte Tom. Als er sich wieder an die Arbeit machte, spielte ein Lächeln um seine Lippen.
Waleran Bigod und seine Begleitung waren noch ungefähr eine Meile entfernt, als sie gesichtet wurden. Es waren ihrer drei, die im strengen Galopp über die kahlen Felder auf das Kloster zuritten: voran Waleran selbst auf einem schwarzen Ross, mit schwarzem,
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