Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Hier seht Ihr die Pfeiler der Arkade. Sie sind durch Bogen miteinander verbunden. Durch die Bogenöffnungen könnt Ihr die Fenster des Seitenschiffs erkennen. Oberhalb der Arkade seht Ihr das Triforium und darüber wiederum den Obergaden mit seinen Fenstern.«
Philips Miene hellte sich auf. Er begann zu verstehen und erwies sich als gelehriger Schüler. Als er sich jedoch dem Grundriss zuwandte, bemerkte Tom, dass auch der ihm ein Buch mit sieben Siegeln war.
»Einen solchen Plan brauchen wir draußen auf der Baustelle, wenn wir den genauen Standort der Wände und Säulen, der Türen und Strebepfeiler festlegen wollen. Er wird uns sagen, wo wir unsere Pflöcke einschlagen und unsere Schnüre spannen müssen.«
Wieder dämmerte die Erkenntnis in Philips Gesicht. Es ist gar nicht so schlecht, dass er die Zeichnungen von alleine nicht versteht, dachte Tom, da kann ich meine Zuversicht und meinen Sachverstand besser zur Geltung bringen … Schließlich wandte sich Philip dem Querschnitt zu, und Tom fuhr mit seiner Erklärung fort. »Hier, in der Mitte, seht Ihr das Schiff. Es hat eine Holzdecke. Dahinter befindet sich der Turm. Das Hauptschiff wird – hier und hier – von den Seitenschiffen flankiert. Die Strebepfeiler sind außen an den Seitenschiffen angebracht.«
»Das sieht ja großartig aus«, sagte Philip. Der Querschnitt beeindruckte den Prior besonders. Es war, als habe jemand die Westfassade der Kirche wie eine Schranktür geöffnet, um den Blick auf das Innere freizugeben.
Philips Blick wanderte zum Grundriss zurück. »Das Mittelschiff besteht demnach nur aus sechs Jochen?«
»Jawohl. Der Chor hat deren vier.«
»Ist das nicht ziemlich klein?«
»Könnt Ihr Euch denn einen größeren Bau leisten?«
»Ich kann mir überhaupt keinen leisten«, erwiderte Philip. »Ich nehme an, Ihr habt keine Ahnung, wie viel dieser hier kostet.«
»Ich weiß ganz genau, was er kostet«, sagte Tom und bemerkte die Überraschung, die sich auf Philips Gesicht abzeichnete: Der Prior wusste nicht, dass Tom überhaupt mit Zahlen umgehen konnte. Viele Stunden hatte der Baumeister damit zugebracht, die Kosten des Kathedralenbaus zu errechnen – bis auf den letzten Penny. Jetzt gab er Philip einen Annäherungswert: »Ich schätze, dass Ihr mit dreitausend Pfund hinkommt.«
Ein hohles Lachen war die Antwort. »Ich habe in den vergangenen Wochen das Jahreseinkommen der Priorei berechnet«, sagte der Prior und schwenkte das Pergament, in dessen Lektüre er bei Toms Eintreffen vertieft gewesen war. »Hört, was dabei herausgekommen ist: dreihundert Pfund. Von denen jeder Penny ausgegeben wird.«
Für Tom kam die Enthüllung nicht überraschend. Dass die Priorei in der Vergangenheit schlecht geführt worden war, sah man an allen Ecken und Enden. Der Baumeister war zuversichtlich, dass es Philip gelingen würde, die Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. »Ihr werdet das Geld schon irgendwie zusammenbekommen, Vater«, sagte er und fügte fromm hinzu: »Mit Gottes Hilfe.«
Philip wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Zeichnungen zu. Er wirkte noch nicht überzeugt. »Wie viel Zeit würde dieser Bau in Anspruch nehmen?«, fragte er.
»Das hängt davon ab, wie viele Leute Ihr beschäftigt«, antwortete Tom. »Mit dreißig Steinmetzen und Maurern sowie einer ausreichenden Zahl an Tagelöhnern, Lehrburschen, Zimmerern und Schmieden, die ihnen zur Hand gehen, mag es fünfzehn Jahre dauern. Gebt ein Jahr für die Fundamente, je vier Jahre für Chor und Querschiff sowie sechs Jahre für das Langhaus.«
Die Rechnung verfehlte ihren Eindruck nicht. »Ich wünschte mir, unsere Klosteroffizialen wären mit Eurer Vorausschau und Eurer Zahlenkunst begabt«, sagte Philip und betrachtete sehnsuchtsvoll die Entwürfe. »Das hieße, ich müsste zweihundert Pfund im Jahr auftreiben. Wenn man’s so nimmt, klingt es gar nicht mehr so schlimm …« Er versank in Gedanken. Tom war aufgeregt: Philip sah in den vor ihm liegenden Zeichnungen nicht mehr nur abstrakte Entwürfe, sondern Vorlagen für ein durchführbares Projekt. »Gesetzt den Fall, ich könnte mehr Geld beschaffen – würde das die Arbeit beschleunigen?«
»Bis zu einem gewissen Grade, ja.« Tom war vorsichtig; er wollte nicht, dass Philip sich in übertriebene Begeisterung hineinsteigerte, der später zwangsläufig die Enttäuschung folgen musste. »Ihr könntet zum Beispiel sechzig Steinmetzen und Maurer anstellen und überall gleichzeitig mit dem Bau beginnen. Dann dauert
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