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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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große Saal war dunkel und staubig, die Binsen auf dem Boden knochentrocken. Die Feuerstelle war kalt. Eine Wendeltreppe führte weiter hinauf. Philip trat ans Fenster. Der Staub stieg ihm in die Nase, und er musste niesen. Da der Ausblick alles andere als überwältigend war, entschied er sich, ins nächste Stockwerk zu steigen.
    Oben angekommen, sah Philip sich zwei geschlossenen Türen gegenüber. Er vermutete, dass die kleinere zur Latrine und die größere ins gräfliche Schlafgemach führte. Er öffnete die größere.
    Das Zimmer war nicht leer.
    Philip erstarrte vor Schreck. Mitten im Raum stand, das Gesicht ihm zugewandt, eine junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Einen Augenblick lang glaubte der Prior an eine Vision, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Üppige dunkle Locken umwallten ein bezauberndes Gesicht. Aus großen, dunklen Augen sah die Frau ihn an. Sie ist genauso überrascht wie ich, dachte Philip und löste sich aus seiner Starre. Er wollte einen Schritt auf sie zugehen, doch da wurde er unvermittelt von hinten gepackt und spürte die kalte Klinge eines langen Messers an seinem Hals. Eine männliche Stimme sagte: »Und wer, zum Teufel, seid Ihr?«
    Das Mädchen kam auf ihn zu. »Nennt Euren Namen, sonst wird Matthew Euch töten«, sagte sie mit königlicher Würde.
    Ihr Verhalten verriet die adlige Herkunft. Doch selbst Adligen war es untersagt, Mönche zu bedrohen. So antwortete Philip ruhig: »Sag Matthew, er möge den Prior von Kingsbridge sofort loslassen, widrigenfalls hat er mit schlimmen Folgen zu rechnen.«
    Der Mann gab ihn frei. Ein Blick über die Schulter zeigte Philip, dass es sich bei diesem Matthew um einen schmächtigen Burschen handelte, ungefähr so alt wie er selbst. Er kam offenbar gerade aus der Latrine.
    Das Mädchen mochte an die siebzehn Lenze zählen. Trotz ihres anmaßenden Benehmens war sie recht ärmlich gekleidet. Während er sie noch musterte, öffnete sich plötzlich der Deckel einer Truhe, die hinter dem Mädchen an der Wand stand, und ein halbwüchsiger, etwas belämmert dreinschauender Junge kroch heraus. In der Hand hielt er ein Schwert. Philip vermochte nicht zu sagen, ob er dort auf der Lauer gelegen oder sich bloß versteckt hatte.
    »Und wer bist du?«, fragte er.
    »Ich bin die Tochter des Grafen von Shiring. Mein Name ist Aliena.«
    Die Tochter! , dachte Philip. Ich hatte keine Ahnung, dass sie noch immer auf der Burg lebt … Er betrachtete den Jungen. Der war vielleicht fünfzehn Jahre alt und sah – bis auf die Stupsnase und die kurzen Haare – dem Mädchen sehr ähnlich. Fragend hob Philip die Brauen.
    »Ich bin Richard, der Erbe der Grafschaft«, sagte der Junge im krächzenden Ton des Heranwachsenden.
    Und auch der Mann, der hinter Philip stand, stellte sich vor. »Mein Name ist Matthew. Ich bin der Haushofmeister der Burg.«
    Philip war jetzt klar, dass die drei sich seit der Gefangennahme des Grafen auf der Burg verborgen hielten. Der Haushofmeister kümmerte sich um die Kinder. Er musste irgendwo Geld oder Vorräte versteckt haben.
    »Ich weiß, wer dein Vater ist«, sagte Philip, an Aliena gewandt. »Doch wo ist deine Mutter?«
    »Sie starb vor vielen Jahren.«
    Der Prior spürte einen Stich im Herzen. Die Kinder waren praktisch Vollwaisen – und er war mitschuldig an ihrem Schicksal. »Habt ihr denn keine Verwandten, die sich um euch kümmern können?« »Ich kümmere mich um die Burg, bis mein Vater wiederkommt«, erwiderte das Mädchen.
    Die leben ja in einer Traumwelt, dachte Philip. Sie tun so, als seien sie noch immer Mitglieder einer reichen und mächtigen Familie. In Wirklichkeit ist Aliena, deren Vater in Ungnade gefallen ist und im Verlies sitzt, ein Mädchen wie jedes andere – und der Junge Erbe von gar nichts. Nie wieder wird Graf Bartholomäus Earlscastle betreten – es sei denn, der König beschließt, ihn hier zu hängen …
    Das Mädchen tat ihm leid, doch er empfand auch eine gewisse Hochachtung für die Willensstärke, mit der sie die Illusion aufrechterhielt und noch zwei andere Menschen in ihrem Bann hielt. Sie hat das Format einer Königin, dachte er.
    Von draußen ertönte Hufgetrappel auf Holz: Mehrere Pferde überquerten die Brücke. »Was führt Euch hierher?«, fragte Aliena.
    »Eine Verabredung«, sagte Philip. Er drehte sich um und wollte zur Tür, doch Matthew versperrte ihm den Weg. Einen Moment lang standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Wollen sie mich am Fortgehen hindern, fragte sich

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