Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
aus einer Reihe von Pfeilern, deren obere Enden durch halbkreisförmige Bogen miteinander verbunden waren. Dieser Teil wurde Arkade genannt und gab den Blick frei auf die Rundbogenfenster der Seitenschiffe. Fenster- und Arkadenbogen mussten genau aufeinander abgestimmt werden, sodass das einfallende Licht ungebrochen das Mittelschiff erreichen konnte. Die Pfeiler der Arkade standen auf gleicher Höhe wie die äußeren Strebepfeiler.
Jeder Bogen der Arkade wurde von drei nebeneinanderliegenden kleineren Bogen gekrönt, dem sogenannten Triforium. Da sich hinter ihnen das Pultdach des Seitenschiffs befand, konnte durch diese Bogen kein Licht einfallen. Oberhalb des Triforiums schloss sich der mit Fenstern durchbrochene Ober- oder Lichtgaden an.
Die Baumeister und Steinmetzen früherer Tage, also auch die Erbauer der alten Kathedrale von Kingsbridge, hatten Stabilität durch dicke, schwere Mauern zu erreichen gesucht und aus diesem Grund nur sehr kleine, überaus armselige Fenster eingebaut, die kaum Licht hereinließen. Inzwischen wusste man jedoch, dass gerade und sorgfältig gemauerte Wände auch bei größeren Fenstern genügend Stabilität boten.
Nach Toms Plan betrug das Größenverhältnis der drei Elemente der Mittelschiffswand – Arkade, Triforium und Obergaden – genau 3:1:2. Die Arkade war also halb so hoch wie die Wand, und der Obergaden beanspruchte ein Drittel der Resthöhe. Die richtigen Proportionen waren das Entscheidende beim Kirchenbau: Sie vermittelten unterschwellig das Gefühl eines rundum harmonischen, in sich stimmigen Gebäudes.
Toms Zeichnung war fertig. Er prüfte sie mit kritischem Blick und fand sie tadellos. Aber was würde Philip davon halten? Er, Tom, konnte die Bogen sehen, von vorne bis hinten in langer Reihe aufmarschiert, mit der Nachmittagssonne auf Schnitzwerk und Gesimsen … Aber würde Philip dasselbe sehen wie er?
Er begann mit der dritten Zeichnung, dem Grundriss. Nach seiner Vorstellung sollten die Arkaden je zwölf Bogen umfassen. Die Kirche wurde dadurch in zwölf Abschnitte oder Joche aufgeteilt. Davon entfielen sechs Joche auf das Hauptschiff und vier auf den Chor. Die in Höhe des siebten und achten Jochs liegende Vierung öffnete sich nach beiden Seiten zum Querschiff hin. Oberhalb der Vierung erhob sich der Turm.
Alle Kathedralen, ja nahezu alle Kirchen überhaupt, hatten einen kreuzförmigen Grundriss. Das Kreuz war das bedeutendste Symbol der Christenheit, doch gab es auch praktische Gründe für diese Konstruktion: Die Querhäuser boten willkommenen Raum für zusätzliche Kapellen und Versammlungsräume wie die Sakristei.
Nach Beendigung des Grundrisses wandte Tom sich wieder der Hauptskizze zu, die – von Westen her gesehen – das Innere der Kirche zeigte, und begann, den Turm einzuzeichnen.
Der Kirchturm sollte entweder anderthalbmal oder doppelt so hoch sein wie das Schiff. Die niedrigere Version führte zu einem eindrucksvollen regelmäßigen Profil, bei dem Seitenschiffe, Hauptschiff und Turm im Verhältnis 1:2:3 abgestuft waren. Aufregender war die höhere Version: Bei gleichbleibendem Verhältnis zwischen Hauptschiff und Seitenschiffen überragte der Turm das Hauptschiff um das Doppelte seiner Länge, sodass die Proportionen insgesamt dem Verhältnis 1:2:4 entsprachen. Tom hatte sich für die zweite Version entschieden: Dies war die einzige Kathedrale, die er je bauen würde – und da wollte er nach den Sternen greifen … Er hoffte inständig, Philip möge es nicht anders ergehen.
Erklärte sich der Prior mit dem vorliegenden ersten Entwurf einverstanden, so musste Tom sich erneut ans Werk machen und genauere, maßstabsgetreue Pläne anfertigen. Hinzu kämen Hunderte von Einzelzeichnungen – von Plinthen, Säulen, Kapitellen, Kragsteinen und Türeinfassungen, von Fialen, Treppen, Wasserspeiern und zahllosen anderen Einzelheiten; er würde jahrelang damit beschäftigt sein. Was er jetzt vor sich hatte, war indes das Wesentliche – und es konnte sich sehen lassen: Es war einfach, billig, elegant und genau proportioniert.
Er musste seinen Entwurf jemandem zeigen – und zwar bald.
Ursprünglich hatte er warten wollen, bis der Mörtel hart war und sich eine passende Gelegenheit zum Gespräch mit Prior Philip bot. Jetzt änderte er seine Meinung: Philip sollte den Entwurf sofort anschauen.
Ob er mich für anmaßend hält, fragte er sich. Der Prior hat mich nicht gebeten, einen Entwurf zu zeichnen. Vielleicht denkt er an einen anderen
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