Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Baumeister, einen, der schon einmal für ein Kloster gearbeitet und sich dort bewährt hat? Vielleicht verlacht er mich und meinen Ehrgeiz … Andererseits: Wenn ich ihm nichts zeige, meint er vielleicht, ich sei den anstehenden Aufgaben gar nicht gewachsen, und holt sich einen anderen Baumeister, ohne mich überhaupt in Erwägung zu ziehen … Tom war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Eher nahm er es hin, als anmaßend zu gelten.
Es war Nachmittag, aber noch hell. Die Mönche versammelten sich um diese Zeit im Kreuzgang, während Philip sich meistens in seinem Haus aufhielt und in der Bibel las. Tom beschloss, an seine Tür zu klopfen.
Vorsichtig ergriff er sein Zeichenbrett und verließ das Haus.
Er musste an der Ruine vorbei, und auf einmal kam ihm die ungeheure Aufgabe, die er sich aufladen wollte, schier unlösbar vor: diese vielen Steine, all das Holz und die Handwerker, all diese Jahre … Was kommt da nur alles auf mich zu, dachte er. Ich muss für den stetigen Nachschub an hochwertigen Baumaterialien sorgen, muss Handwerker einstellen und entlassen und unermüdlich mit Senkblei und Wasserwaage deren Arbeit kontrollieren. Ich muss Lehrbretter für die Gesimse herstellen und Hebevorrichtungen konstruieren …
Tom zweifelte an seiner Kraft und an seinen Fähigkeiten. Dann aber packte ihn wieder die Begeisterung: Wie großartig wäre es, aus dem Nichts heraus etwas Neues zu schaffen … hier, an diesem Ort, wo sich zur Zeit nur ein einziger großer Trümmerhaufen befindet, eine neue Kathedrale entstehen zu sehen und dann, wenn sie fertig ist, sagen zu können: Das ist mein Werk!
Aber da rumorte noch ein anderer Gedanke in seinem Hinterkopf, ohne dass er ihn richtig fassen konnte. Er schob ihn von sich, wollte sich nicht zu ihm bekennen. Agnes war ohne priesterlichen Beistand gestorben und lag in ungeweihtem Boden. Am liebsten wäre er in Begleitung eines Priesters an den traurigen Ort zurückgekehrt, hätte ihn ein paar Gebete sprechen lassen und vielleicht einen kleinen Grabstein errichtet. Aber Tom hatte Angst, dass, wenn er andere auf die Grabstätte im Wald aufmerksam machte, auch die Geschichte mit dem ausgesetzten Säugling ans Tageslicht kommen würde. Kindesaussetzung galt nach wie vor als Mord. Von Woche zu Woche war seine Sorge um die Seele seiner verstorbenen Frau gewachsen: Wo war sie – an einem guten oder an einem schlechten Ort? Aus Furcht, nach genaueren Einzelheiten befragt zu werden, wagte er nicht, sich an einen Priester zu wenden, und tröstete sich mit dem Gedanken, dass Gott ihm gewiss wohlgesonnen sein werde, wenn er ihm eine Kathedrale errichtete. Ob ich den Herrn darum bitten darf, die mir gewährte Gunst Agnes zukommen zu lassen, fragte er sich. Er wollte seine Arbeit an der Kathedrale Agnes widmen – dann, so fühlte er, würde er sich um ihr Seelenheil keine Sorgen mehr machen müssen und selber Ruhe finden.
Er stand vor dem Haus des Priors, einem kleinen, ebenerdigen Steinhaus. Obwohl es recht kühl war, stand die Tür offen. Tom zögerte einen Moment. Bewahre deine Ruhe, und kehre deinen Sachverstand und deine Erfahrung heraus, sagte er sich. Zeige ihm, dass du ein Baumeister bist, der mit allen neuen Erkenntnissen seiner Zunft vertraut ist. Gib dich als ein Mann, dem du selbst gern dein Vertrauen schenken würdest …
Er trat ein. Das Haus hatte nur einen einzigen Raum. Auf der einen Seite stand ein großes Bett mit üppig dekorierten Vorhängen, auf der anderen ein kleiner Altar mit einem Kruzifix und einem Kerzenhalter. Prior Philip, die Stirn sorgenvoll gerunzelt, stand am Fenster und las in einem Pergament. Er blickte auf, lächelte Tom zu und fragte ihn: »Was gibt’s?«
»Zeichnungen, Vater«, erwiderte Tom und bemühte sich, seine Stimme klar und ruhig klingen zu lassen. »Meine ersten Entwürfe für die neue Kathedrale. Darf ich sie Euch zeigen?«
Philip schien gleichermaßen überrascht wie neugierig. »Aber selbstredend!«, sagte er.
In der Zimmerecke stand ein großes Stehpult. Tom rückte es ins Licht und legte seinen Rahmen auf die Schräge. Philip betrachtete die Zeichnungen, und Tom studierte Philips Miene. Er erkannte sogleich, dass der Prior noch nie eine Aufrisszeichnung, einen Grundriss und einen Gebäudequerschnitt gesehen hatte. Sein Gesicht verriet Ratlosigkeit.
Tom wollte ihm helfen. Er zeigte auf den Aufriss und erklärte: »Hier seht Ihr ein Joch des Mittelschiffs. Stellt Euch vor, Ihr steht mittendrin und betrachtet die Wand.
Weitere Kostenlose Bücher