Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
»Ich bin der Prior von Kingsbridge.«
Der Diener zuckte mit den Schultern und ließ ihn durch.
Bischof Henry saß an der Schmalseite des Tisches, Waleran zu seiner Rechten. Henry war ein untersetzter, breitschultriger Mann mit streitlustiger Miene. Er mochte etwa so alt wie Waleran sein, also vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Philip. Die dreißig hatte er mit Sicherheit noch nicht erreicht. Sein rosiger Teint und die wohlgepolsterten Gliedmaßen wiesen ihn als einen Mann mit herzhaftem Appetit aus und bildeten einen merklichen Gegensatz zu dem leichenblassen Waleran und dem hageren Philip. Seine Augen waren wach und klug, das Gesicht verriet Entschlossenheit. Als jüngster von vier Brüdern hatte er vermutlich zeitlebens kämpfen müssen, um zu seinem Recht zu kommen. Überrascht stellte Philip fest, dass Henrys Kopf geschoren war – ein Zeichen dafür, dass der Bischof einst die Profess abgelegt hatte und sich noch immer als Mönch betrachtete. Allerdings trug er kein härenes Gewand, sondern eine prunkvolle Tunika aus purpurfarbener Seide. Waleran trug unter seiner gewohnten schwarzen Tunika ein makelloses weißes Leinenhemd. Philip erkannte, dass die beiden sich bereits für die Audienz beim König zurechtgemacht hatten. Waleran und Henry aßen kaltes Rindfleisch und tranken Rotwein dazu. Philip, der nach dem langen Gang durch die Stadt großen Hunger verspürte, lief das Wasser im Munde zusammen.
Waleran blickte auf. Als er Philips ansichtig wurde, huschte ein unwilliger Zug über sein Gesicht.
»Guten Morgen«, sagte Philip.
»Das ist mein Prior«, sagte Waleran zu Henry.
Philip gefiel diese Bezeichnung wenig. »Philip von Gwynedd, ehrwürdiger Herr Bischof«, fügte er hinzu. »Prior von Kingsbridge.«
Er rechnete damit, dass der Bischof ihm seine beringte Hand zum Kusse reichen würde, doch Henry sagte nur »Na, prächtig!« und stopfte sich einen weiteren Brocken Rindfleisch in den Mund. Philip stand da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Will mich denn keiner bitten, Platz zu nehmen? dachte er.
»Wir kommen gleich, Philip«, sagte Waleran.
Das kam einem Hinauswurf gleich, Philip merkte es sofort. Gedemütigt wandte er sich ab und kehrte zu den Männern zurück, die vor der Tür herumlungerten. Der Diener, der ihn zuvor hatte abweisen wollen, grinste hämisch, als wollte er sagen: Ich hatte dich ja gewarnt. Philip hielt sich von den anderen fern. Er schämte sich auf einmal seiner fleckigen braunen Kutte, die er nun schon seit einem halben Jahr Tag und Nacht auf dem Leibe trug. Viele Benediktinermönche pflegten ihre Ordenskleidung schwarz zu färben, doch in Kingsbridge verzichtete man aus Ersparnisgründen schon seit Jahren darauf. Philip hatte immer geglaubt, dass feine Kleider nur der Eitelkeit Vorschub leisteten und sich für einen Diener Gottes nicht ziemten, wie hoch sein Rang auch sein mochte. Jetzt wurde ihm auf einmal klar, dass sie auch noch einen anderen Zweck erfüllten. In Samt und Seide gekleidet, hätte ich wahrscheinlich keine solche Abfuhr bekommen, dachte er, doch … Demut ist mönchische Pflicht. Also war es gut für mein Seelenheil …
Die beiden Bischöfe standen vom Tisch auf und schritten zur Tür. Ein Diener brachte eine fein bestickte scharlachrote Robe mit Seidenbesatz. Henry legte sie an und sagte: »Viel zu sagen werdet Ihr heute nicht haben, Philip.«
Und Waleran setzte hinzu: »Überlasst das Reden uns.«
»Überlasst das Reden mir«, sagte Bischof Henry mit leichter Betonung des mir. »Wenn der König Euch etwas fragt, gebt ihm einfache Antworten, und schmückt die Dinge nicht zu sehr aus. Der König begreift Euren Wunsch nach einer neuen Kirche auch ohne viel Heulen und Zähneklappern.«
Das hätte er sich sparen können, dachte Philip, der Henrys Benehmen unangenehm herablassend fand. Er ließ sich seinen Unmut jedoch nicht anmerken, sondern beschränkte sich auf ein zustimmendes Nicken.
»Gehen wir jetzt«, sagte Henry. »Mein Bruder ist Frühaufsteher, und so wie ich ihn kenne, beschließt er sein Tagwerk rasch, um sich zur Jagd in den New Forest zu verfügen.«
Sie verließen den Palast. Ein Bewaffneter, der ein Schwert am Gürtel und in der Hand einen Stab trug, schritt Henry voran. Die High Street ging es entlang, dann bergauf Richtung Westtor. Die Menschen traten bereitwillig zur Seite für die beiden Bischöfe, nicht aber für Philip, der deshalb ein Stück zurückfiel. Hier und da bat jemand um einen Segen, worauf Henry, ohne
Weitere Kostenlose Bücher