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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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dem anderen Mann gegenüber. Im gleichen Augenblick rappelte Richard sich auf und zog sein Schwert.
    Der zweite Wegelagerer sah von einem zum anderen, dann auf seinen sterbenden Freund. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte in den Wald.
    Aliena sah ihm ungläubig nach. Es war kaum zu fassen: Sie hatten ihn tatsächlich in die Flucht geschlagen!
    Sie wandte den Blick dem zweiten Mann zu. Er lag flach auf dem Rücken, und aus der großen Stichwunde quollen seine Gedärme. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Gesicht war von Angst und Pein verzerrt.
    Aliena vermochte weder Erleichterung noch Stolz darüber zu empfinden, dass sie sich und ihren Bruder erfolgreich gegen die beiden Schurken verteidigt hatte: Der Anblick des Sterbenden war zu grausig.
    Richard kannte solche Vorbehalte nicht. »Du hast ihn erdolcht, Allie!«, rief er, zwischen Aufregung und Erleichterung schwankend. »Du hast es ihnen gezeigt!«
    Aliena sah ihn an. Es war an der Zeit, dass er seine Lektion lernte. »Töte den hier«, sagte sie.
    Richard starrte sie an. »Wie bitte?«
    »Töte ihn«, wiederholte sie. »Gib ihm den Gnadenstoß. Mach ihn kalt!«
    »Wieso denn ich?«
    Sie gab ihrer Stimme bewusst einen harten Klang. »Weil du dich wie ein kleiner Junge aufführst. Aber ich brauche einen Mann. Und weil du mit deinem Schwert nie etwas anderes als imaginäre Kriege ausgefochten hast. Irgendwann musst du es lernen. Was ist los mit dir? Wovor hast du Angst? Er stirbt sowieso. Er kann dir nichts mehr tun. Los, zieh dein Schwert! Du brauchst die Übung. Töte ihn!«
    Richard hielt sein Schwert mit beiden Händen fest und sah unsicher drein. »Wie denn?«
    Der Mann brüllte auf.
    Aliena schrie Richard an: »Woher soll ich das wissen?! Schlag ihm den Kopf ab, oder stich ihm ins Herz! Egal, wie! Hauptsache, du bringst ihn zum Schweigen!«
    Richard hob ratlos sein Schwert und ließ es wieder sinken.
    Aliena sagte: »Wenn du es nicht tust, dann lasse ich dich im Stich, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist. Eines Nachts werde ich aufstehen und mich davonmachen, und wenn du am nächsten Morgen aufwachst, bin ich nicht mehr bei dir. Dann stehst du mutterseelenallein da. Bring ihn jetzt um, auf der Stelle!«
    Wieder hob Richard sein Schwert. Und dann geschah das Unglaubliche: Der Sterbende hörte auf zu schreien und versuchte, sich aufzurappeln. Er rollte sich zur Seite und stützte sich mit dem Ellbogen ab. Richard stieß einen Laut aus, der halb Angstschrei und halb Schlachtruf war, und hieb das Schwert mit aller Macht in den entblößten Hals des Mannes.
    Die Waffe war schwer und die Klinge scharf und trennte mehr als die Hälfte des feisten Halses vom Rumpf. Wie eine Fontäne schoss das Blut heraus, und der Kopf fiel grotesk verrenkt zur Seite. Der Körper sackte zu Boden.
    Aliena und Richard starrten auf den Toten hinab. In der Winterluft bildeten sich Schwaden über dem warmen Blut. Beide Geschwister waren überwältigt von ihrer Tat. Plötzlich wollte Aliena nur noch weg. Sie fing an zu rennen, und Richard lief ihr nach.
    Sie rannte, bis ihr die Puste ausging. Erst da fiel ihr auf, dass sie schluchzte. Langsam ging sie weiter. Diesmal kümmerte es sie nicht mehr, dass Richard sie weinen sah. Es schien ihn ohnehin nicht zu berühren.
    Langsam beruhigte sie sich wieder. Ihre Füße taten weh. Sie blieb stehen, zog die Holzschuhe aus, nahm sie in die Hand und ging barfuß weiter. Nach Winchester war es nicht mehr weit.
    Nach einer Weile sagte Richard: »Wir sind ganz schön dumm.«
    »Wieso?«
    »Der Mann da. Wir haben ihn einfach liegen lassen. Wir hätten seine Stiefel nehmen sollen.«
    Aliena blieb stehen und starrte ihn entgeistert an.
    Er drehte sich nach ihr um und lachte verhalten. »Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?«, meinte er.
    +++
    Als sie bei Anbruch der Dunkelheit durch das westliche Stadttor von Winchester die High Street betraten, schöpfte Aliena neuen Mut. Draußen im Wald hätten sie ermordet werden können, ohne dass irgendwer davon erfuhr. Natürlich wimmelte es in der Stadt ebenfalls von Dieben und Gaunern, aber wenigstens konnten die ihre Verbrechen nicht dreist am helllichten Tag verüben. In der Stadt gab es Gesetze, und Gesetzesbrecher wurden verbrannt, verstümmelt oder aufgeknüpft.
    Sie erinnerte sich, wie sie erst vor ungefähr einem Jahr mit ihrem Vater durch dieselbe Straße gekommen war. Sie waren natürlich zu Pferde gewesen; ihr Vater auf einem übernervösen Kastanienbraunen, sie

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