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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Aliena beobachtete, wie sie einfach ins Stroh auf den Boden pinkelten. In einem Haus, in dem das Vieh im selben Raum wie seine Besitzer schlief, fiel das wahrscheinlich nicht weiter ins Gewicht, aber in einem überbelegten Schlafsaal wie diesem war es ziemlich ekelerregend. Immerhin mussten sie später alle auf diesem Stroh schlafen.
    Ein seltsames Gefühl beschlich Aliena, als sähen ihr alle Leute an, dass sie ihre Unschuld verloren hatte. Das war natürlich lächerlich, aber sie konnte sich nicht davon freimachen. Wiederholt überprüfte sie, ob sie wieder blutete. Sie blutete nicht. Doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, fiel ihr erneut irgendein Fremder ins Auge, der sie unverwandt und durchdringend anstarrte. Sobald sich ihre Blicke kreuzten, blickte ihr Gegenüber weg, doch wenig später ertappte sie schon wieder einen anderen bei seiner unangenehmen Musterung. Sie redete sich ein, sie sei albern, niemand starre sie an und diese Leute sähen sich nur neugierig in dem vollen Raum um. Es gab ohnehin nichts Auffälliges an ihr zu entdecken: Sie war ebenso schmutzig, schlecht angezogen und müde wie alle anderen auch. Trotzdem wollte das merkwürdige Gefühl nicht weichen, sodass sie mit der Zeit wider ihren Willen immer wütender wurde. Besonders ein Mann fiel ihr auf, ein Pilger mittleren Alters in Begleitung einer vielköpfigen Familie. Schließlich riss ihr der Geduldsfaden, und sie fuhr ihn an: »Was glotzt du so? Hör sofort auf, mich anzustarren!« Er schien verlegen und wandte seine Augen ab, ohne etwas zu erwidern.
    Richard sagte ruhig: »Warum hast du das getan, Allie?«
    Sie hieß ihn den Mund zu halten, und er verstummte.
    Bald nach dem Abendessen machten die Mönche die Runde und sammelten die Binsenlichter ein. Ihnen lag daran, dass die Gäste früh schlafen gingen: Das hielt sie des Nachts von den Bierstuben und Bordellen fern und erleichterte es am nächsten Morgen, die Besucher so früh wie möglich loszuwerden. Einige alleinstehende Männer verließen den Raum, sobald die Lichter verschwunden waren, und begaben sich zweifellos auf die Suche nach fleischlichen Genüssen, doch die meisten rollten sich auf ihren Umhängen auf dem Boden zusammen.
    Aliena hatte seit Jahren nicht mehr in einem solchen Gemach geschlafen. Als Kind hatte sie die Leute unten im Saal beneidet, die Seite an Seite in einem verräucherten und nach Essensdünsten riechenden Raum mit den Wachhunden vor dem langsam erlö­schenden Feuer lagen. Dieses Bild hatte ihr ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt, das in den weitläufigen Räumen ihrer adligen Familie nicht zu finden war. Damals war sie manchmal aus ihrem eigenen Bett geschlüpft und die Treppe hinuntergeschlichen, um sich neben einer ihrer Lieblingsmägde, Madge Laundry oder Old Joan, schlafen zu legen.
    Die Gerüche ihrer Kindheit in der Nase, schlief Aliena ein. Sie träumte von ihrer Mutter. Gewöhnlich fiel es ihr schwer, sich an ihre Mutter zu erinnern, aber diesmal sah sie Mamas Gesicht überraschend klar vor sich: die feinen Züge, das scheue Lächeln, die leichte Knochenstruktur, den ängstlichen Blick. Sie sah ihre Mutter gehen, sah, wie sie sich leicht zur Seite neigte und den anderen Arm, wie um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, leicht abgewinkelt hielt, als suche sie Halt an der Mauer. Sie hörte ihre Mutter lachen mit dieser unerwartet vollen und sehr tiefen Altstimme, jederzeit bereit, in Gesang oder Gelächter auszubrechen, und doch immer zu ängstlich dazu. In diesem Traum verstand Aliena zum ersten Mal, was ihr im Wachen nie klar geworden war: Ihr Vater hatte ihre Mutter dermaßen eingeschüchtert, ihre Lebensfreude so vollkommen unterdrückt, dass sie, wie eine Blume, der man das Wasser verweigert, verwelken und verdorren musste. Aliena war, als habe sie das alles seit jeher gewusst, so vertraut kam es ihr vor. Neu und erschreckend allerdings war, dass sie selbst schwanger war. Ihre Mutter schien sich darüber zu freuen. Sie hielten sich in einem Schlafgemach auf. Alienas Bauch war derart angeschwollen, dass sie nicht anders als in der uralten Pose aller werdenden Mütter sitzen konnte, die Beine leicht geöffnet, die Hände still über dem gewölbten Bauch gefaltet. Plötzlich stürzte William Hamleigh ins Zimmer, einen langen Dolch in der Hand, und Aliena wusste sofort, dass er ihr den Bauch aufschlitzen würde – genauso, wie sie es mit dem feisten Räuber im Wald gemacht hatte. Ihre Entsetzensschreie waren so laut, dass sie

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