Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
auf einem wunderschönen grauen Zelter, und die Leute hatten ihnen auf ihrem Ritt durch die breiten Straßen Platz gemacht. Sie besaßen ein Haus im Süden der Stadt und wurden dort bei ihrer Ankunft von acht oder zehn Bediensteten begrüßt. Das Haus war frisch geputzt gewesen, frisches Stroh lag auf allen Böden, und in sämtlichen Kaminen brannte ein Feuer. Aliena hatte jeden Tag die schönsten Kleider getragen: feinstes Leinen, Seide und weiche Wolle in den prächtigsten Farbschattierungen, Stiefel und Gürtel aus Kalbsleder und mit Edelsteinen besetzte Broschen und Armreifen. Sie hatte dafür Sorge zu tragen, dass alle, die dem Grafen ihre Aufwartung machten, angemessen bewirtet wurden: Fleisch und Wein für die Reichen, Brot und Bier für die Ärmeren, ein Lächeln und ein Plätzchen vor dem Kamin für jedermann. Ihr Vater nahm es mit den Pflichten eines Gastgebers peinlich genau, entsprach aber selbst nicht annähernd seinen eigenen Vorstellungen – die meisten fanden ihn kühl und zurückhaltend, wenn nicht gar herablassend. Das machte Aliena wett.
Ihr Vater genoss allseits Respekt und wurde von den höchsten Würdenträgern aufgesucht: dem Bischof, dem Abt, dem Vogt und den Baronen, die bei Hofe verkehrten. Aliena fragte sich, wie viele von ihnen sie jetzt wohl wiedererkennen würden, wie sie barfuß durch den Schlamm und Schmutz der High Street watete, doch der Gedanke daran vermochte ihre Zuversicht nicht zu dämpfen. Das Wichtigste war, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekam.
Sie gingen an ihrem Haus vorüber. Es war unbewohnt und verschlossen: Die Hamleighs hatten es wohl noch nicht in Besitz genommen. Aliena fühlte sich einen Augenblick lang versucht, dort einzudringen. Das ist mein Haus, dachte sie. Aber das stimmte natürlich nicht, und die Vorstellung, die Nacht dort zu verbringen, erinnerte sie an die vergangenen Monate auf der Burg, die sie blind gegenüber der Wirklichkeit verbracht hatte. Entschlossen ging sie weiter.
Ein weiterer Vorteil war die Tatsache, dass es in der Stadt ein Kloster gab. Die Mönche stellten jedem Bittsteller einen Schlafplatz zur Verfügung. Heute Nacht würden Richard und sie ein Dach über dem Kopf haben, unter dem sie sicher und trocken schlafen konnten.
Sie fand die Kathedrale und betrat den Klosterhof. Zwei Mönche standen hinter einer aufgebockten Tischplatte und verteilten Bier und grobes Brot aus Bohnen und Weizen an mehr als hundert Menschen. Aliena staunte. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass eine solche Menge auf die Gastfreundschaft der Mönche angewiesen sein könnte. Richard und sie schlossen sich der Schlange an. Verblüfft stellte sie fest, dass alle Rempeleien und Rangeleien – wie sie gewöhnlich auftraten, wenn eine freie Mahlzeit ausgeteilt wurde – unterblieben. Das gesittete Verhalten der vielen Menschen war offenbar allein auf den Mönch zurückzuführen, der ruhig und bestimmt seine Anweisungen erteilte.
Sie bekamen ihr Abendessen und nahmen es mit in die Herberge hinüber, ein großer, scheunenartiger Holzbau ohne jegliches Mobiliar, der nur schwach von Binsenlichtern erleuchtet wurde und stark nach den Ausdünstungen eng zusammengepferchter Menschen roch. Zum Essen setzten sie sich auf den Boden, der gut und gerne eine frische Auslage mit Stroh vertragen hätte. Aliena überlegte, ob sie sich den Mönchen gegenüber zu erkennen geben sollte. Der Abt würde sich vielleicht an sie erinnern. In einem Kloster dieser Größe gab es bestimmt ein besseres Gästequartier für Besucher höherer Stände. Dennoch verspürte sie eine gewisse Abneigung gegen dieses Vorhaben, sei es, dass sie Angst davor hatte, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, sei es, dass sie davor zurückschreckte, sich erneut Fremden anzuvertrauen; und wiewohl sie von einem Abt nichts zu befürchten hatte, zog sie es doch vor, anonym und unbemerkt zu bleiben.
Die anderen Gäste waren in der Mehrzahl Pilger, darunter wenige Handwerker, erkennbar an ihren mitgeführten Werkzeugen, sowie mehrere Hausierer – Männer, die über die Dörfer zogen und Dinge verkauften, die die Bauern selbst nicht herstellen konnten: Nadeln und Messer, Kochtöpfe und Gewürze. Einige von ihnen waren mit Kind und Kegel unterwegs. Die Kinder waren laut und aufgeregt, rannten hin und her, stritten sich und fielen auf die Nase. Ab und zu gab es einen Zusammenstoß mit einem Erwachsenen, eine Maulschelle und lautes Wehgeschrei. Ein paar Kinder waren noch nicht ganz stubenrein, und
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