Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
aufrecht sitzend davon erwachte. Erst dann wurde ihr klar, dass William weit fort war, dass sie nicht wirklich geschrien, sondern all das sich nur in ihrem Kopf abgespielt hatte.
Danach lag sie wach und fragte sich, ob sie vielleicht tatsächlich schwanger war.
Dieser Gedanke war ihr nie zuvor gekommen, und sie erschrak zu Tode darüber. Allein die Vorstellung, von William Hamleigh ein Kind zu bekommen! Abscheulich! Aber vielleicht war es gar nicht von ihm, sondern von seinem Reitknecht? Das ließ sich womöglich nie genau feststellen. Aber wie sollte sie dieses Kind überhaupt lieben können? Jedes Mal, wenn ich es ansehe, dachte sie, wird es mich an jene grauenvolle Nacht erinnern. Sie schwor sich, das Kind heimlich zur Welt zu bringen, es gleich nach der Geburt auszusetzen und erfrieren zu lassen – wie eine Bäuerin, die schon zu viele Kinder hatte. Erst als sie sich zu diesem Entschluss durchgerungen hatte, wurde sie wieder vom Schlaf übermannt.
Kaum war der Tag angebrochen, da kamen auch schon die Mönche mit dem Frühstück. Von den anderen Gästen waren die meisten wach, denn sie waren früh schlafen gegangen. Aliena hingegen, die den Schlaf der Erschöpfung schlief, wurde erst durch ihren Lärm geweckt.
Das Frühstück bestand aus warmer, gesalzener Hafergrütze, die von Aliena und Richard heißhungrig verschlungen wurde. Am liebsten hätten sie noch etwas Brot dazu gegessen. Aliena überlegte sich derweilen, was sie König Stephan sagen wollte. Höchstwahrscheinlich war ihm einfach entfallen, dass der Graf von Shiring zwei Kinder hatte. Sobald sie vor ihm erschienen und ihn daran erinnerten, würde er ohne weiteres Zögern für sie sorgen. Gesetzt den Fall jedoch, er musste überredet werden, legte sich Aliena die passenden Worte zurecht. Sie beschloss, nicht auf der Unschuld ihres Vaters zu beharren, denn das ließe den Schluss zu, dass der König ein falsches Urteil gesprochen hätte, und das würde er als Beleidigung betrachten. Außerdem würde sie nicht dagegen protestieren, dass Percy Hamleigh zum Grafen ernannt worden war. Männer mit Macht und Einfluss konnten nichts weniger vertragen, als wenn bereits gefällte Entscheidungen im Nachhinein in Frage gestellt wurden. »Entschieden ist entschieden«, pflegte ihr Vater zu sagen, »ob nun zum Guten oder zum Schlechten.« Nein, sie wollte den König schlicht darauf hinweisen, dass sie und ihr Bruder unschuldig waren, und ihn bitten, ihnen ein Rittergut zu überlassen, damit sie ein bescheidenes Auskommen hatten und Richard sich auf seine Laufbahn als Ritter des Königs vorbereiten konnte. Ein kleines Gut ermöglichte ihr außerdem, sich um ihren Vater zu kümmern, sobald es dem König gefiel, ihn freizulassen. Vater war keine Gefahr mehr. Weder besaß er einen Titel, noch Gefolgsleute oder Vermögen. Sie musste dem König ins Gedächtnis rufen, dass ihr Vater dem alten König Heinrich, Stephans Onkel, stets treue Dienste geleistet hatte. Sie wollte sich nicht aufdrängen, aber sie wollte ihr Anliegen mit der gebotenen Demut eindringlich, klar und einfach vorbringen.
Nach dem Frühstück fragte sie einen der Mönche, wo sie sich das Gesicht waschen könne. Er schien überrascht: Diese Frage wurde ihm offensichtlich höchst selten gestellt. Doch da Mönche gemeinhin sehr reinlich waren, zeigte er ihr bereitwillig eine offene Wasserleitung, aus der klares, kaltes Wasser auf das Gelände der Priorei geleitet wurde. Allerdings ermahnte er sie, sich nicht, wie er sich ausdrückte, ›unzüchtig‹ zu waschen, damit keiner der Brüder sie zufällig sehen und seine Seele besudeln konnte. Mönche, dachte Aliena, tun viel Gutes, aber ihre Einstellung ist doch oftmals sehr lebensfremd.
Nachdem sie sich den Straßenstaub von den Gesichtern gewaschen hatten, verließen sie das Kloster und gingen die High Street hinauf zum Schloss, das sich neben dem Westtor der Stadt befand. Aliena hoffte, sich durch ihr frühes Erscheinen bei demjenigen, der für die Vorlassung von Bittstellern zuständig war, einschmeicheln zu können, sodass sie nicht in der Menge der später vorsprechenden, hochwichtigen Persönlichkeiten in Vergessenheit geriet. Doch dann war es innerhalb der Schlossmauern sehr viel ruhiger, als sie angenommen hatte. War König Stephan etwa schon so lange hier, dass ihn kaum jemand mehr aufsuchte? Sie hatte keine Ahnung, wann er eingetroffen war. Der König, glaubte sie, sei normalerweise die ganze Fastenzeit hindurch in Winchester, doch in der Zeit, in
Weitere Kostenlose Bücher