Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
in den Wald und versteckten sich, bis die Reisenden an ihnen vorbeigezogen waren. Kamen sie an ein Dorf, so hasteten sie eilig hindurch und sprachen mit niemandem ein Wort. Richard hätte gern etwas zu essen erbettelt, doch Aliena erlaubte es nicht.
Gegen Mitte des Nachmittags hatten sie sich ihrem Ziel bis auf wenige Meilen genähert, ohne dass sie von irgendjemandem belästigt worden wären. Allmählich gelangte Aliena zu der Überzeugung, dass es wohl doch nicht so schwierig war, jeden Verdruss zu vermeiden – da trat plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch und stellte sich ihnen in den Weg.
Es war zu spät, sich zu verstecken, und weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken, die ihnen hätte zu Hilfe kommen können.
»Nicht stehen bleiben«, sagte Aliena zu Richard, aber der Mann blockierte den Weg. Sie mussten anhalten. Aliena sah sich nach einem Fluchtweg um, doch ein Stück hinter ihnen war ein zweiter Mann aus dem Wald getreten und vereitelte jedes Entkommen.
»Wen haben wir denn da?«, sagte der Mann vor ihnen mit lauter Stimme. Er war ein fetter Kerl mit rotem Gesicht und einem verdreckten, verfilzten Bart. Er schob einen mächtigen Bauch vor sich her und trug eine schwere Keule bei sich. Das war ganz bestimmt ein Wegelagerer! Es war ihm anzusehen, dass er vor keiner Gewalttat zurückschreckte, und Aliena wurde angst und bange.
»Lass uns in Ruhe«, bat sie flehend. »Wir haben selbst nichts.«
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte der Mann. Er tat einen Schritt auf Richard zu. »Das sieht mir ganz nach einem feinen Schwert aus und ist bestimmt ein paar Schilling wert.«
»Es gehört aber mir«, trotzte Richard, doch seine Stimme klang wie die eines verschreckten Kindes.
Es hat keinen Sinn, dachte Aliena. Wir sind einfach machtlos. Ich bin noch nicht einmal erwachsen, und Richard ist noch ein Kind, und jeder kann mit uns umspringen, wie’s ihm gerade passt.
Der Fettwanst hob mit überraschender Behändigkeit seine Keule und holte zum Schlag aus, doch Richard duckte sich flink. Der Hieb, der seinem Kopf galt, traf ihn nur an der Schulter. Aber der Dicke war stark, und Richard ging zu Boden.
Urplötzlich war es mit Alienas Selbstbeherrschung vorbei. Sie war ungerecht behandelt, gemeinstens missbraucht und obendrein noch ausgeraubt worden, ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Ihr kleiner Bruder war vor kaum zwei Tagen schon einmal halb tot geschlagen worden, und nun gab ihr der Anblick des Fettwanstes, der mit der Keule auf ihn losging, den Rest. Sie war wie von Sinnen. Im Nu hatte sie den Dolch aus dem Ärmel gezogen, war auf den Banditen losgegangen und stieß mit dem Messer nach seinem Bauch. »Lass ihn in Ruhe, du Schurke!«, schrie sie.
Damit hatte er nicht gerechnet, und sie traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Vor einem jungen Mädchen, das noch dazu unbewaffnet schien, hatte er sich offenkundig sicher gefühlt. Sein Umhang war bei dem Angriff auf Richard aufgegangen, und er hielt noch immer die Keule in beiden Händen. Die Dolchspitze durchschnitt das wollene Gewand und das leinene Unterhemd und machte erst halt, als sie gegen die gespannte Haut seines Wanstes stieß. Ekel schüttelte Aliena, und sie durchlebte einen Moment blanken Entsetzens bei dem Gedanken, diese Haut zu durchbohren und einem lebendigen Menschen ins Fleisch zu stoßen; aber ihre Furcht gewann die Oberhand, und sie rammte ihm das Messer in die Weichteile. Gleich darauf überfiel sie die Angst, er könne am Leben bleiben und Rache nehmen, deshalb stieß sie den langen Dolch immer tiefer in seine Eingeweide, so tief, bis nur noch das Heft herausragte.
Aus dem furchterregenden, grausamen Mann war mit einem Mal ein ängstliches, waidwundes Tier geworden. Er schrie vor Schmerzen, ließ die Keule fallen und starrte auf das Messer hinab, das in ihm steckte. Im selben Moment begriff Aliena: Ihm war vollkommen klar, dass seine Verletzung tödlich war. Entsetzt fuhr sie zurück, als der Wegelagerer taumelte. Dann fiel ihr wieder ein, dass in ihrem Rücken ein zweiter Strauchdieb lauerte. Von Panik ergriffen, er werde sich für den Tod seines Komplizen rächen, griff sie wieder nach dem Messer und zog daran. Der Verwundete hatte sich halb von ihr abgewandt, sodass sie die Waffe seitwärts herausziehen musste. Dabei spürte sie, wie sie die weichen Eingeweide durchschnitt. Blut spritzte auf ihre Hand. Der Mann schrie wie am Spieß und stürzte zu Boden. Aliena wirbelte herum, das blutige Messer in der Hand, und sah sich
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