Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wunderschöne Kleider tragen, Männer glücklich machen, reich werden. Du könntest es weit bringen. Du hast so ein gewisses Etwas … Du könntest jeden Preis verlangen, jeden! Glaub mir, ich kenne mich aus.«
Aliena erschauderte. Auf der Burg hatte es stets ein oder zwei Huren gegeben – eine reine Notwendigkeit an einem Ort, wo sich so viele Männer ohne ihre Frauen aufhielten –, und sie hatten stets als die Niedrigsten der Niedrigsten gegolten, als die geringsten unter den Weibern, und standen im Rang sogar noch unter den Kehrern. Aber es war nicht der bescheidene Status, der Aliena vor Ekel erbeben ließ – es war die Vorstellung, dass jederzeit gemeine Kerle wie William Hamleigh hereinspazieren konnten und sie ihnen für einen Penny zu Willen sein musste. Der Gedanke brachte die Erinnerung zurück, wie sein massiger Leib sich bedrohlich über sie schob – sie, die mit gespreizten Beinen auf dem Boden lag, zitternd vor Schreck und Abscheu, darauf wartend, dass er in sie eindrang … Die grauenvollen Ereignisse drängten sich ihr unwillkürlich wieder auf und beraubten sie jeglichen Gleichmuts und Selbstvertrauens. Das Gefühl, ihr stieße, bliebe sie auch nur einen Moment länger in diesem Haus, das Gleiche noch einmal zu, wurde übermächtig: Von Panik erfasst, wollte sie nur noch hinaus ins Freie. Wo war die Tür? Rückwärts und vorsichtig ging sie darauf zu, fürchtend, sie könnte diese Kate erzürnen, fürchtend, irgendjemanden gegen sich aufzubringen.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Bitte vergebt mir, aber das kann ich nicht, wirklich …«
»Lass es dir noch mal durch den Kopf gehen!«, sagte Kate heiter. »Solltest du deine Meinung ändern, kannst du jederzeit wiederkommen. Ich bin bestimmt noch hier.«
»Danke«, flüsterte Aliena. Endlich fand sie die Tür und stürzte hinaus. Noch vollkommen durcheinander rannte sie die Treppe hinunter auf die Straße und zum Haupteingang dieses Hauses. Die Tür war nur angelehnt, doch Aliena hatte zu viel Angst, um hineinzugehen.
»Richard!«, rief sie, »Richard, komm raus!« – keine Antwort. Das Innere war schwach erleuchtet, und sie konnte außer wenigen schemenhaften weiblichen Figuren nichts erkennen.
»Richard, wo bist du?«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme.
Sie bemerkte, dass sie von Passanten angestarrt wurde, und ihre Angst wuchs. Und endlich tauchte Richard auf, einen Becher Bier in der einen, ein Hühnerbein in der anderen Hand. »Was gibt’s denn?«, fragte er undeutlich mit vollem Mund. Sein Ton machte klar, dass ihn die Störung ärgerte.
Sie packte ihn am Arm. »Komm da raus«, sagte sie. »Das ist ein Hurenhaus!«
Die Umstehenden lachten laut auf, und mehrere zotige Bemerkungen flogen hin und her.
»Vielleicht geben sie dir auch ein Stück Fleisch«, meinte Richard.
»Die wollen mich hier zur Hure machen!«, tobte sie.
»Gemach, gemach«, sagte Richard. Er leerte seinen Becher, stellte ihn auf den Fußboden gleich hinter der Tür und stopfte sich die Überreste des Hühnerbeins unter sein Hemd.
»Mach schon«, drängte Aliena, obgleich die Notwendigkeit, sich mit ihrem kleinen Bruder auseinanderzusetzen, wieder einmal beruhigend auf sie wirkte. Es schien ihn nicht weiter aufzuregen, dass seine Schwester zur Hure gemacht werden sollte – ihm schien nur leidzutun, dass er ein Haus verlassen musste, in dem man so freigebig mit Hühnchen und Bier umging.
Die Umstehenden erkannten, dass der Spaß ein Ende hatte, und gingen weiter, nur eine Frau blieb stehen – die gut gekleidete Frau, der sie im Gefängnis begegnet waren. Sie hatte dem Aufseher einen Penny gegeben, und er hatte sie Meg genannt. Sie bedachte Aliena mit einem Blick, in dem sich Neugier und Mitgefühl mischten, doch Aliena hatte mittlerweile eine Abneigung gegen Blicke jeglicher Art entwickelt und sah verärgert weg. Die Frau sprach sie an. »Du sitzt in der Patsche, ja?«, fragte sie.
Der freundliche Unterton in Megs Stimme veranlasste Aliena, sich umzudrehen. »Ja«, sagte sie nach einer Pause. »Wir sitzen in der Klemme.«
»Ich habe euch im Gefängnis gesehen. Mein Mann sitzt dort – ich besuche ihn jeden Tag. Warum wart ihr dort?«
»Unser Vater ist im Gefängnis.«
»Aber ihr seid nicht hineingegangen.«
»Wir haben kein Geld, um den Aufseher zu bezahlen.«
Megs Blick glitt über Aliena hinweg zur Tür des Freudenhauses. »Und deswegen bist du hier – um Geld aufzutreiben?«
»Ja, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung,
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