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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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zu einem Lächeln, das auf Aliena wirkte, als grinse sie ein Totenschädel an.
    Sie brach in Tränen aus. Der Schock traf sie völlig unvorbereitet: Seine ungeheuerliche Veränderung übertraf noch ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie erkannte sofort, dass er im Sterben lag; der bösartige Odo hatte die Wahrheit gesagt. Aber er war noch am Leben, litt noch immer Qualen und freute sich doch so schmerzlich, sie zu sehen. Sie hatte sich vorgenommen, ruhig und gefasst zu bleiben, aber nun verlor sie jede Beherrschung, sackte vor ihm in die Knie und weinte, als wollten die Schluchzer, die tief aus ihrem Inneren drangen, sie schier zerreißen.
    Er beugte sich vor und legte die Arme um sie und tätschelte ihr den Rücken, wie man ein Kind tröstet, das sich über ein angeschrammtes Knie oder ein kaputtes Spielzeug grämt. »Wein doch nicht«, sagte er sanft. »Nicht jetzt, wo du deinen Vater so glücklich gemacht hast.«
    Aliena spürte, wie ihr die Kerze aus der Hand genommen wurde. Vater sagte: »Und dieser große junge Mann ist mein Richard?«
    »Ja, Vater«, erwiderte Richard steif.
    Aliena umarmte ihren Vater; seine Magerkeit fühlte sich an wie Stöcke in einem Sack. Er siechte dahin, war nur noch Haut und Knochen. Sie wollte sprechen, ihm etwas Liebes oder Tröstliches sagen, doch vor lauter Schluchzen brachte sie kein Wort heraus.
    »Richard«, hörte sie ihn sagen, »wie groß du geworden bist! Hast du schon einen Bart?«
    »Er sprießt schon ein bisschen, Vater, ist aber noch sehr spärlich.«
    Aliena merkte, dass auch Richard den Tränen nahe war und darum kämpfte, nicht die Fassung zu verlieren. Wenn er es nicht schafft, dachte Aliena, wird er sich schämen, denn Vater wird ihm prompt befehlen, er solle sich zusammenreißen und wie ein Mann benehmen, und das macht alles nur noch schlimmer. Vor lauter Sorge um Richard hörte sie auf zu weinen und gewann mühsam ihre Fassung zurück. Sie drückte Vaters grausam dürren Körper noch einmal an sich, löste sich dann aus der Umarmung, wischte sich die Tränen aus den Augen und schnäuzte sich in ihren Ärmel.
    »Geht es euch beiden gut?«, fragte Vater. Er sprach langsamer als früher, und seine Stimme war zittriger geworden. »Wie seid ihr zurechtgekommen? Wo lebt ihr jetzt? Sie haben mir nicht das Geringste über euch berichtet – das war die ärgste Tortur, die sie sich ausdenken konnten. Aber ihr scheint wohlauf zu sein – gesund und munter! Das ist wunderbar!«
    Das Wort Tortur ließ Aliena zusammenzucken, und sie fragte sich, ob er tatsächlich gefoltert worden war, hakte jedoch nicht nach: Sie hatte Angst vor seiner Antwort. Statt dessen nahm sie Zuflucht zu einer Lüge: »Uns geht es gut, Vater.« Die nackte Wahrheit hätte ihm den Rest gegeben, das wusste sie genau. Sie hätte nicht nur das Glück zerstört, das er in diesem Moment empfand, sondern außerdem noch dazu geführt, dass er seine letzten Tage auf Erden voller quälender Selbstvorwürfe durchlitt. »Wir sind auf der Burg geblieben, und Matthew hat sich um uns gekümmert.«
    »Aber da könnt ihr nicht mehr wohnen«, gab er zurück. »Der König hat diesen fetten Tölpel Percy Hamleigh zum Grafen ernannt – also bekommt er auch die Burg.«
    Er wusste also Bescheid. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Wir haben die Burg verlassen.«
    Er berührte ihr Kleid, das alte Leinending, das ihr die Frau des Jagdpflegers geschenkt hatte. »Was ist das?«, fragte er streng. »Hast du etwa deine Kleider verkauft?«
    Ihm entgeht immer noch nichts, dachte Aliena. Er lässt sich nicht so einfach hinters Licht führen. Sie entschied sich, ihm einen Teil der Wahrheit zu sagen. »Wir mussten die Burg überstürzt verlassen und haben keine Kleidung mitgenommen.«
    »Wo ist Matthew? Warum ist er nicht bei euch?«
    Diese Frage hatte sie befürchtet. Sie zögerte mit der Antwort, nur kurz zwar, aber es war ihm nicht entgangen.
    »Na los! Ihr braucht mir nichts zu verheimlichen!«, sagte er mit einem Anflug der gewohnten Autorität. »Wo ist Matthew?«
    »Die Hamleighs haben ihn umgebracht«, erwiderte sie. »Aber uns haben sie kein Haar gekrümmt.« Sie hielt den Atem an. Ob er ihr das glaubte?
    »Armer Matthew«, sagte er traurig. »Eine Kämpfernatur war er nie. Ich hoffe nur, dass er direkt in den Himmel gekommen ist.«
    Er hatte ihr die Geschichte abgenommen! Erleichtert schlug Aliena ungefährlichere Themen an. »Wir sind nach Winchester gekommen, um den König zu ersuchen, gewisse Vorkehrungen

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