Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
um was es sich handelt, bevor …«
»Du armes Ding«, sagte Meg. »Meine Annie wäre jetzt in deinem Alter, wenn sie noch lebte … Warum kommt ihr morgen früh nicht mit mir zusammen zum Gefängnis? Dann versuchen wir mit vereinten Kräften, Odo an seine Christenpflicht zu erinnern und Mitleid mit zwei mittellosen Kindern zu haben.«
»Oh, das wäre wunderbar«, antwortete Aliena gerührt. Viel Erfolg versprach dieser Vorschlag nicht, aber allein die Tatsache, dass ihnen jemand helfen wollte, ließ ihr das Wasser in die Augen schießen.
Meg sah sie immer noch prüfend an. »Habt ihr heute schon etwas gegessen?«
»Nein. Richard hat in dem … da drin etwas bekommen.«
»Dann kommt ihr besser zu mir nach Hause, dort gibt’s Brot und Fleisch.« Sie bemerkte Alienas zweifelnden Gesichtsausdruck und fügte hinzu: »Ohne dass ihr dafür etwas tun müsst.«
Aliena glaubte ihr. »Danke«, sagte sie. »Du bist sehr gütig. Das haben wir bislang noch kaum erlebt. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Nicht nötig«, sagte Meg. »Kommt mit.«
Megs Mann handelte mit Wolle. Er pflegte nicht nur in seinem Haus im Süden der Stadt, sondern auch an seinem Stand auf dem Wochenmarkt sowie auf dem alljährlich stattfindenden Großmarkt auf dem St.-Giles-Hügel die Schafvliese aufzukaufen, die ihm die Bauern aus der Umgebung brachten. Dann stopfte er sie in große Wollsäcke, von denen jeder die Vliese von zweihundertvierzig Schafen fasste, und lagerte sie in einer Scheune hinter seinem Haus. Wenn die flämischen Weber einmal im Jahr ihre Agenten auf der Suche nach der weichen, doch soliden englischen Wolle aussandten, verkaufte Megs Mann seine gesamte Ware und verschiffte sie über Dover und Boulogne nach Brügge und Gent, wo sie zu hochwertigen Tuchen verarbeitet und schließlich zu Preisen in alle Welt verkauft wurden, die für die Bauern mit ihren Schafen unerschwinglich waren.
Das alles erzählte Meg den Geschwistern im Laufe des Abendessens, und dabei lächelte sie die beiden so herzlich an, dass sie am Ende meinten, diese Frau könne, unter welchen Umständen auch immer, niemals einen Mitmenschen unfreundlich behandeln.
Ihr Mann war beschuldigt worden, falsch zu wiegen, ein Verbrechen, das in Winchester als gravierend galt, da der Reichtum der Stadt auf der Ehrlichkeit ihrer Händler beruhte. Aliena allerdings schloss aus der Art und Weise, wie Meg davon sprach, dass der Mann nicht unschuldig sein konnte. Seine Abwesenheit hatte jedoch kaum Auswirkungen auf die Geschäfte gehabt. Meg hatte ganz einfach seinen Platz eingenommen. Im Winter gab es sowieso nicht viel zu tun: Sie war nach Flandern gereist und hatte allen Agenten versichert, das Unternehmen liefe reibungslos weiter; außerdem hatte sie die Scheune reparieren und dabei gleich ein wenig vergrößern lassen. Sobald die Schafschur einsetzte, würde sie genau wie er Vliese kaufen. Sie konnte die Qualität beurteilen und die Preise festsetzen. Dem befleckten Ruf ihres Gatten zum Trotz war sie bereits in die Kaufmannsgilde der Stadt aufgenommen worden, denn die Tradition der Kaufleute besagte, dass man sich in Notzeiten unter die Arme zu greifen hatte, zumal Megs Gatte noch nicht seiner Schuld überführt war.
Richard und Aliena aßen und tranken dazu sogar Wein, wärmten sich an Megs Feuer und unterhielten sich mit ihr bis zum Anbruch der Dunkelheit; erst dann kehrten sie zum Schlafen ins Kloster zurück. Aliena wurde in dieser Nacht wieder von Albträumen heimgesucht. Diesmal träumte sie von ihrem Vater. In ihrem Traum saß er, groß, bleich und gebieterisch wie eh und je, auf einem Thron im Gefängnis, und als sie ihn besuchte, musste sie sich tiefer vor ihm verneigen als vor dem König. Er machte ihr Vorwürfe und behauptete, sie habe ihn seinem Schicksal überlassen und sei in ein Freudenhaus gezogen. Empört über diese Ungerechtigkeit erwiderte sie zornig, er habe schließlich sie im Stich gelassen. Beinahe hätte sie noch hinzugefügt, er hätte sie sogar William Hamleigh auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, aber die Abneigung, ihrem Vater zu berichten, was William ihr angetan hatte, siegte. Erst dann sah sie, dass William ebenfalls anwesend war, auf einem Bett saß und Kirschen aus einer Schüssel mampfte. Er spuckte mit einem Kirschkern nach ihr, der schmerzhaft auf ihre Wange traf. Ihr Vater lächelte nur, worauf William begann, mit den weichen Kirschen nach ihr zu werfen. Sie trafen ihr Gesicht und ihr Kleid, und sie begann zu
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