Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
zurück.«
William verneigte sich noch einmal und zog sich zurück. Der König vertiefte sich wieder in sein Gespräch mit dem Grafen, während sich die Höflinge um William scharten und ihn ihrer Anteilnahme versicherten. Erst da ging ihm die Bedeutung dessen, was der König gesagt hatte, auf. Er hatte ihm die Verwaltung der Grafschaft anvertraut, bis die Frage der Nachfolge geklärt ist. Welche Frage? William war das einzige Kind seines Vaters. Wie konnte es da eine Frage geben? Er betrachtete die Gesichter um sich herum, und sein Blick fiel auf einen jungen Priester, der als stets gut informiert galt. Er zog den Mann zu sich heran und fragte leise: »Was, zum Teufel, hat er mit dieser ›Frage um die Nachfolge‹ gemeint, Joseph?«
»Es gibt noch einen zweiten Anwärter auf die Grafschaft«, erwiderte Joseph.
»Einen zweiten Anwärter?«, wiederholte William erstaunt. Er hatte weder Halbbrüder noch illegitime Brüder, noch irgendwelche Vettern. »Wer ist es?«
Joseph deutete auf einen Mann, der ihnen den Rücken zukehrte und zu den Neuangekommenen gehörte. Er trug die Kleidung eines Knappen.
»Aber der ist ja nicht einmal Ritter!«, sagte William laut. »Mein Vater war Graf von Shiring!«
Der Knappe hatte es gehört und drehte sich um. »Mein Vater war ebenfalls Graf von Shiring.«
Zunächst erkannte William ihn nicht. Er hatte einen breitschultrigen, etwa achtzehn Jahre zählenden jungen Mann vor sich, der für einen Knappen bestens gekleidet war und ein gutes Schwert besaß. Seine Haltung verriet Selbstvertrauen, ja sogar Arroganz. Vor allem aber bedachte er sein Gegenüber mit einem solchen Ausdruck blanken Hasses, dass William erschrocken zurücktrat. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Trotzdem wusste William noch immer nicht, wen er vor sich hatte – bis er die rote Narbe am rechten Ohr des Knappen entdeckte, wo ihm das Ohrläppchen abgeschnitten worden war. Blitzartig überfiel ihn die Erinnerung an ein winziges Stück weißen Fleisches, das auf die schwer atmende Brust einer von panischer Angst ergriffenen Jungfrau fiel, an die Schmerzensschreie eines Jungen: Dies war Richard, der Sohn des Verräters Bartholomäus, Alienas Bruder! Der Knabe, der gezwungen worden war zuzuschauen, wie zwei Männer seine Schwester vergewaltigten, war zu einem stattlichen Mann herangewachsen, dem der Rachedurst aus den blauen Augen loderte. William fühlte sich unvermittelt von Furcht gepackt.
»Ihr erinnert Euch, nicht wahr?«, sagte Richard in leicht gedehntem Tonfall, der seine kalte Wut nicht vollkommen verdecken konnte.
William nickte. »Ich erinnere mich.«
»Ich auch, William Hamleigh«, sagte Richard. »Ich auch.«
William saß auf dem großen Stuhl am Kopfende des Tisches, dem ehemaligen Stammplatz seines Vaters. Er hatte seit jeher gewusst, dass er ihn eines Tages einnehmen würde, und sich dabei vorgestellt, wie ungeheuer mächtig er sich dann fühlen würde. Nun, da es Wirklichkeit geworden, empfand er eher eine gewisse Angst, mit seinem Vater verglichen, für unzureichend befunden und von niemandem respektiert zu werden.
Williams Mutter saß zu seiner Rechten. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte er oft beobachtet, wie sie mit Vaters Ängsten und Schwächen Katz und Maus spielte und stets ihren eigenen Willen durchsetzte. Das sollte ihm nicht passieren, hatte er sich gelobt.
Zu seiner Linken saß Arthur, ein sanftmütiger, grauhaariger Mann, einst der Gutsverwalter des Grafen Bartholomäus, den Williams Vater, nachdem er Graf von Shiring geworden, wegen seiner profunden Kenntnis sämtlicher Ländereien übernommen hatte. Williams Zweifel an der Weisheit dieser Entscheidung hatten sich nie gelegt: Anderer Leute Diener blieben nicht selten den Methoden ihrer vormaligen Brotgeber treu.
»König Stephan kann Richard unmöglich zum Grafen ernennen«, sagte Mutter gerade wütend. »Er ist nichts weiter als ein Knappe!«
»Ich begreife nicht, wie er selbst das zuwege gebracht hat«, sagte William gereizt. »Ich dachte immer, sie seien an den Bettelstab geraten. Aber er trug feine Kleidung und ein gutes Schwert. Wo hat er das Geld her?«
»Er hat sich als Wollhändler etabliert«, erwiderte Mutter. »Er hat mehr Geld, als er braucht. Oder vielmehr seine Schwester – soviel ich höre, führt sie die Geschäfte.«
Aliena! Sie also steckte dahinter. William hatte sie nie ganz vergessen können, doch seit der Krieg ausgebrochen war, hatte sie nicht mehr all seine Gedanken beherrscht – bis er
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