Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Seither hatten sie keine menschliche Siedlung mehr zu Gesicht bekommen. Am Spätnachmittag erspähte Tom allerdings eine Rauchsäule, die sich über die Baumwipfel erhob, und sie fanden das einsame Haus eines königlichen Jagdaufsehers, der ihnen für Toms kleine Axt einen Sack Steckrüben gab.
Nur etwa drei Meilen später sagte Agnes, sie sei zu müde zum Weitergehen. Tom war überrascht: In all den Jahren, die sie nun schon zusammenlebten, hatte er dergleichen noch nie von ihr gehört.
Sie setzte sich unter eine große Rosskastanie am Wegesrand. Mit Hilfe eines der letzten Werkzeuge, die ihnen verblieben waren – einer abgenutzten Holzschaufel, die niemand hatte kaufen wollen –, hob er eine flache Grube für das Lagerfeuer aus. Die Kinder sammelten Reisig, und Tom entzündete das Feuer. Dann nahm er den Kochtopf und machte sich auf die Suche nach einem Bach. Nach einer Weile kehrte er zurück; der Topf war mit eiskaltem Wasser gefüllt. Martha sammelte Kastanien auf, die vom Baum gefallen waren, und Agnes zeigte ihr, wie man sie schälen und das weiche Innere zu einem groben Mehl zermahlen konnte, mit dem sich die Steckrübensuppe ein wenig andicken ließ. Tom schickte Alfred nach mehr Feuerholz aus, während er selbst einen Stock zur Hand nahm und im Falllaub herumzustochern begann. Er hoffte, einen Igel oder ein Eichhörnchen im Winterschlaf aufzustöbern; es hätte die Suppe ein bisschen angereichert. Aber er hatte kein Glück.
Langsam senkte sich die Dunkelheit über die Wälder herab. Tom setzte sich neben Agnes ans Feuer.
»Haben wir noch Salz?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Du isst den Brei schon seit Wochen ohne Salz. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Nein.«
»Hunger ist der beste Koch.«
»Nun, davon haben wir mehr als genug.« Tom war auf einmal müde. Zu viele Enttäuschungen hatte er in den vergangenen Monaten erfahren. Er empfand sie als eine schwere Last. Er konnte einfach nicht länger den Tapferen spielen. Tiefe Niedergeschlagenheit lag in seiner Stimme, als er Agnes fragte: »Was ist nur schiefgegangen, Agnes?«
»Alles«, antwortete sie. »Du hattest schon im letzten Winter keine Arbeit. Im Frühjahr bekamst du dann welche, und dann ließ die Tochter des Grafen die Verlobung platzen, und Lord William verzichtete auf das neue Haus. Dass wir uns damals entschlossen, noch zu bleiben und bei der Ernte zu helfen, war ein Fehler.«
»Ja, das stimmt. Im Sommer hätte ich woanders viel eher eine Arbeit gefunden als im Herbst.«
»Und dann kam der frühe Wintereinbruch. Doch selbst den hätten wir noch überstanden, wenn uns das Schwein nicht gestohlen worden wäre.«
Tom nickte trübsinnig. »Mein einziger Trost ist der, dass der Dieb nun alle Qualen der Hölle über sich ergehen lassen muss.«
»Hoffentlich.«
»Zweifelst du etwa daran?«
»Die Priester wissen gar nicht so viel, wie sie immer vorgeben. Mein Vater war schließlich auch einer …«
Tom konnte sich noch sehr gut an seinen Schwiegervater erinnern. Eine Mauer der Gemeindekirche war eingestürzt und konnte nicht mehr ausgebessert werden. Er, Tom, hatte den Auftrag erhalten, eine neue zu errichten. Zu heiraten war den Priestern untersagt, doch jener Priester hatte eine Haushälterin, und die Haushälterin hatte eine Tochter. Im Dorf war es ein offenes Geheimnis, dass der Priester der Vater des Kindes war. Agnes war keine Schönheit, schon damals nicht, doch sie schien vor Energie und Tatkraft schier zu bersten, und ihre Haut hatte den schimmernden Glanz der Jugend. Sie besuchte Tom auf der Baustelle und unterhielt sich mit ihm. Manchmal presste der Wind ihr das Kleid hautnah an den Leib, sodass Tom die Formen ihres Körpers sehen konnte, als ob sie nackt gewesen wäre, sogar den Nabel. Eines Nachts kam sie zu ihm in seine kleine Hütte, legte ihm die Hand auf den Mund, um ihn am Reden zu hindern, und zog dann ihr Kleid aus, sodass er sie nackt im Mondlicht sehen konnte. Da nahm er ihren starken, jungen Körper in die Arme, und sie liebten sich.
»Wir waren beide noch völlig unerfahren«, sagte er laut.
Agnes wusste sofort, woran er dachte, doch ihr Lächeln hielt nicht lange vor. »Es ist so lange her«, sagte sie.
»Können wir jetzt essen?«, fragte Martha.
Tom knurrte der Magen, als ihm der Geruch der Suppe in die Nase stieg. Er tauchte seinen Napf in die blubbernde Flüssigkeit und fischte ein paar Rübenscheibchen mit dünnem Brei heraus. Mit der stumpfen Seite seines Messers prüfte er die
Weitere Kostenlose Bücher