Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
ihre Ellbogen und spreizte die Beine.
»Was ist?«, fragte Tom mit Furcht in der Stimme, doch Agnes brachte vor Anstrengung kein Wort heraus.
»Alfred, knie dich hinter deine Mutter auf den Boden, sodass sie sich anlehnen kann!«
Kaum hatte Alfred die ihm zugewiesene Stellung eingenommen, öffnete Tom Agnes’ Umhang und knöpfte ihre Tunika auf. Er kniete zwischen ihren Beinen nieder und sah die Haare auf dem Kopf des Kindes. »Jetzt ist es bald vorüber, Liebling«, murmelte er beruhigend.
Agnes entspannte sich wieder, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Im Wald war es ganz still, nur das Prasseln des Feuers war zu hören. Tom fiel plötzlich wieder ein, dass auch die verfemte Ellen ihr Kind im Freien geboren hatte, ohne jede Hilfe. Es musste entsetzlich gewesen sein. Sie hatte von ihrer Angst erzählt, dass ein Wolf hätte kommen und ihr in ihrer Hilflosigkeit das Neugeborene wegschnappen können … In diesem Winter, so hieß es, waren die Wölfe von besonderer Kühnheit. Allerdings war kaum damit zu rechnen, dass sie eine Gruppe von vier Menschen angriffen.
Die nächste Wehe kam, und auf Agnes’ schmerzverzerrtem Gesicht bildeten sich neue Schweißperlen. Jetzt ist es so weit, dachte Tom. Wieder konnte er im flackernden Licht das feuchte schwarze Kopfhaar des Kindes erkennen. Er wollte beten, doch dazu war nun keine Zeit mehr. Agnes’ Atem ging hastig, stoßweise. Immer weiter kam der Kopf zum Vorschein. Tom sah schon die faltige Nackenhaut.
»Der Kopf ist da«, sagte er. Agnes entspannte sich wieder etwas. Langsam drehte Tom das Kind um, sodass die geschlossenen Augen und der mit Blut und Schleim verschmierte Mund des Kindes zu sehen waren.
»O seht doch!«, rief Martha. »Schaut euch das kleine Gesichtchen an!«
Agnes hörte es und lächelte, doch schon kündigte sich die nächste Wehe an. Die Schultern erschienen, erst die eine, dann die andere, und Tom beugte sich vor und hielt den kleinen Kopf mit der linken Hand. Der Rest des Körpers kam mit einem Schwung. Tom hielt die Rechte unter die Hüften des Kindes, als die winzigen Beinchen in die kalte Welt glitten.
»Gib mir jetzt die Bänder, die du geflochten hast«, sagte Tom zu Martha. »Gleich wirst du sehen, wozu man sie braucht.«
Sie reichte ihm die geflochtenen Halme. Tom band an zwei Stellen die Nabelschnur ab, nahm sein Messer zur Hand und durchtrennte sie zwischen den beiden Knoten.
Tom hob das Kind hoch und betrachtete es von allen Seiten. Es war voller Blut, sodass er schon das Schlimmste fürchtete, doch als er genauer hinsah, fanden sich keinerlei Verletzungen.
Das Kind war ein Junge.
»Das sieht ja furchtbar aus«, sagte Martha.
»Der ist gesund und munter«, sagte Tom, ganz schwach vor Erleichterung. »Ein Prachtkerl!«
Das Kind öffnete den Mund und fing an zu schreien.
Tom sah sich nach Agnes um. Sie lächelten einander zu. Er zog das winzige Wesen an seine Brust. »Martha, hol ein Schüsselchen Wasser aus dem Topf.« Das Mädchen sprang auf, um seinen Wunsch zu erfüllen. »Agnes, wo sind die Tücher?« Agnes deutete auf den Leinenbeutel, der neben ihrer Schulter auf der Erde lag. Alfred nahm ihn auf und reichte ihn seinem Vater. Sein Gesicht war tränenüberströmt; es war das erste Mal, dass er eine Geburt miterlebte.
Tom tauchte ein Tuch in die Schüssel und wusch dem Kleinen vorsichtig Blut und Schleim aus dem Gesicht. Agnes knöpfte das Oberteil ihrer Tunika auf, und Tom legte ihr den brüllenden Säugling in den Arm.
Dann setzte er sich erleichtert nieder. Sie hatten es geschafft! Das Schlimmste war überstanden und das Kind wohlauf. Er war stolz.
Agnes legte sich das Kind an den Busen. Das Schreien hörte auf, als der winzige Mund die Brustwarze fand und zu saugen begann.
»Woher weiß das Kindchen, dass es saugen muss?«, fragte Martha erstaunt.
»Das ist ein unergründliches Rätsel«, sagte Tom, gab ihr die Schüssel und fügte hinzu: »Hol deiner Mutter frisches Wasser. Sie möchte sicher etwas zu trinken.«
»O ja«, stimmte Agnes dankbar zu, als hätte sie eben erst gemerkt, wie durstig sie war. Als Martha ihr das Wasser brachte, trank sie die Schüssel in einem Zug leer. »Oh, tut das gut«, sagte sie. »Vielen Dank!«
Sie betrachtete den Säugling an ihrer Brust. Dann sah sie Tom an. »Du bist ein guter Mann«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich liebe dich.«
Tom spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er lächelte ihr zu. Doch dann fiel ihm auf, dass sie nach wie vor ziemlich stark
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