Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sich längst auf den Heimweg in ihre Dörfer gemacht. In den höher gelegenen Häusern der Stadtmitte sowie in den elenden Hütten am Rand flackerte Lampen- und Kerzenschein auf. Tom war nahe daran, die Hoffnung aufzugeben, und fragte sich, ob der Dieb nicht vielleicht doch eine Bleibe gefunden hatte. Vielleicht hatte er Spießgesellen in der Stadt, die sich nicht darum scherten, dass er ein Outlaw war. Vielleicht …
Und da sah er auf einmal einen Mann, dessen Mund mit einem Schal verhüllt war.
Der Mann überquerte gerade die Holzbrücke, anscheinend in Gesellschaft zweier anderer Männer. Tom fielen jetzt die beiden Komplizen des Wegelagerers ein – der Glatzkopf und der Mann mit dem grünen Hut. Waren sie vielleicht gemeinsam in die Stadt gekommen? Tom hatte keinen der beiden in Salisbury gesehen, aber was besagte das schon? Vielleicht hatten sie sich vorübergehend getrennt und zum gemeinsamen Rückmarsch verabredet? Tom unterdrückte einen Fluch; mit drei Männern konnte er es kaum aufnehmen. Doch als die drei Wanderer näher kamen, trennten sie sich voneinander, und Tom erkannte zu seiner großen Erleichterung, dass sie doch nicht zusammengehörten.
Die ersten beiden waren Vater und Sohn – zwei Bauern, der Kleidung nach, mit dunklen, engstehenden Augen und Hakennasen. Sie bogen in den Portway ein, und der Mann mit dem Schal folgte ihnen in einiger Entfernung.
Tom beobachtete den Gang des Diebs. Der Mann wirkte nüchtern. Das war schade.
Auf der Brücke waren zwei weibliche Gestalten aufgetaucht – Agnes und Martha. Tom war entsetzt: Mit ihnen als Zuschauern bei der bevorstehenden Auseinandersetzung hatte er nicht gerechnet. Allerdings hatte er ihnen das Kommen auch nicht ausdrücklich untersagt.
Alle fünf näherten sich jetzt seinem Schlupfwinkel. Tom straffte sich. Weil er so groß war, ließen es seine Gegner meist nicht auf eine direkte Konfrontation mit ihm ankommen. Outlaws aber kämpften mit dem Mut der Verzweiflung; bei ihnen musste man auf alles gefasst sein.
Die beiden Bauern waren inzwischen auf gleicher Höhe. Sie unterhielten sich friedlich über Pferde. Tom zog seinen Schlaghammer aus dem Gürtel und wog ihn in der rechten Hand. Er hasste Diebe, die nicht arbeiteten, sondern rechtschaffenen Menschen das Brot stahlen. Er hatte keine Bedenken mehr, diesem Halunken den Schädel einzuschlagen.
Es war, als spürte der Dieb die drohende Gefahr, denn er ging plötzlich langsamer. Tom wartete ab, bis er nur noch vier oder fünf Schritte entfernt war – dann ließ er sich die Böschung hinunterrollen, setzte über den Bach und trat dem Mann in den Weg.
Der Dieb blieb stocksteif stehen und starrte ihn an. »Was soll das?«, fragte er beunruhigt.
Er erkennt mich nicht, dachte Tom. »Du hast gestern mein Schwein gestohlen«, sagte er. »Und heute hast du es einem Schlachter verkauft.«
»Nein, ich …«
»Streite es nicht ab!«, sagte Tom. »Gib mir das Geld, das du dafür erlöst hast, und ich tue dir nichts.«
Im ersten Moment glaubte er, der Dieb wolle seiner Aufforderung Folge leisten. Der Mann zögerte, und Toms Erregung ebbte ein wenig ab. Doch dann machte der Dieb auf dem Absatz kehrt und lief geradewegs in Agnes hinein.
Um sie über den Haufen zu rennen, war er nicht schnell genug – es gehörte ohnehin einiges dazu, eine Frau wie Agnes über den Haufen zu rennen –, und so taumelten die beiden wie in einem ungelenken Tanz von einer Wegseite zur anderen. Dann merkte der Dieb, dass die Frau ihm ganz bewusst den Weg versperrte, und stieß sie beiseite. Doch Agnes streckte das Bein aus und erwischte ihn zwischen den Knien. Beide stürzten sie zu Boden.
Tom schlug das Herz bis zum Hals, als er ihr zu Hilfe eilte. Der Dieb rappelte sich gerade auf, das Knie auf Agnes’ Rücken. Tom packte ihn am Kragen, schleuderte ihn zur Seite und warf ihn, ehe er sein Gleichgewicht wiedergewann, in den Graben.
»Bist du wohlauf?«, fragte Tom hastig.
»Ja«, antwortete Agnes.
Die beiden Bauern waren inzwischen stehen geblieben und hatten sich umgedreht. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie die Szene. Der Spitzbube hockte noch im Graben. »Er ist ein Outlaw!«, rief Agnes ihnen zu, um zu verhindern, dass sie Partei für ihn ergriffen. »Er hat unser Schwein gestohlen!« Der Bauer und sein Sohn zeigten keine Regung. Sie blieben einfach stehen und warteten ab, was als Nächstes geschah.
Noch einmal versuchte Tom es mit gutem Zureden: »Gib mir mein Geld, und ich lass dich
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