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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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werden, keinen Frost bekommen. Erst im Frühjahr konnten die Mörtelarbeiten wieder aufgenommen werden. Einige Maurer und Steinmetzen waren lediglich für den Sommer angeworben worden. Sie kehrten in ihre Dörfer zurück, wo man sie als Handwerker schätzte, und fertigten den Winter über Pflüge, Sättel, Pferdegeschirre, Wagen, Schaufeln, Türen und was sonst noch der kundigen Hand eines Mannes bedurfte, der mit Hammer, Meißel und Säge umzugehen verstand. Die anderen Steinmetzen zogen sich in die Bauhütten zurück und behauten während der lichten Stunden des Tages Steine in bisweilen recht komplizierten Formen. Aber weil der Frost schon so früh eingesetzt hatte, kamen sie mit ihrer Arbeit zu schnell voran, und weil die Bauern hungerten, hatten die Bischöfe, Burgherren und Kastellane weniger Geld für Bauarbeiten zur Verfügung als erhofft. Also wurden im weiteren Verlauf des Winters einige Steinmetzen entlassen.
    Tom wanderte mit seiner Familie von Salisbury nach Shaftesbury und von dort nach Sherborne, Wells, Bath, Bristol, Gloucester, Oxford, Wallingford und Windsor. Überall brannten die Feuer in den Dombauhütten, und an Kirchen- und Burgmauern hallte der Klang von Eisen auf Stein wider. Die Baumeister formten mit ihren kunstfertigen, in fingerlosen Handschuhen steckenden Händen kleine originalgetreue Modelle der Bögen und Gewölbe. Einige Meister waren ungeduldig, kurz angebunden oder unhöflich; andere bedachten Tom, die Kinder und die schwangere Frau mit bedauernden Blicken und wechselten ein paar freundliche Worte mit ihnen. Doch wenn man zur Sache kam, lautete die Antwort überall gleich: Nein, tut mir leid, Arbeit habe ich für Euch keine.
    Wo immer es möglich war, machten sie sich die Gastfreundschaft der Klöster zunutze, in denen jeder Reisende ein Essen und einen Schlafplatz erhielt – wenn auch streng nur für eine einzige Nacht. Als die Brombeeren gereift waren, hatten sie sich wie die Vögel tagelang von nichts anderem ernährt. Im Wald konnte Agnes ein Feuer entzünden, den eisernen Kochtopf darauf setzen und einen Brei kochen, doch oftmals blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich beim Bäcker Brot oder beim Fischhändler eingelegte Heringe zu besorgen. Oder sie mussten in Schenken und Garküchen essen, was natürlich erheblich teurer war, als sich selbst zu verpflegen. Unwiederbringlich schmolzen ihre Spargroschen dahin.
    Martha war von Natur aus dünn, doch wurde sie jetzt noch magerer. Alfred wurde immer größer und wirkte inzwischen schlaksig. Agnes aß nur wenig, doch das Kind in ihrem Leib war gierig, und es entging Tom nicht, dass der Hunger sie quälte. Manchmal befahl er ihr, mehr zu essen, und dann beugte sie tatsächlich ihren eisernen Willen der vereinten Autorität von Ehemann und ungeborenem Kind. Doch rund und rosig wie in ihren früheren Schwangerschaften wurde sie diesmal nicht; vielmehr wirkte sie trotz ihres geschwollenen Leibes hager und hohlwangig wie ein Kind während einer Hungersnot.
    Von Salisbury aus hatten sie ungefähr drei Viertel eines großen Kreises zurückgelegt, sodass sie gegen Ende des Jahres wieder die ausgedehnten Waldungen erreichten, die sich von Windsor bis fast vor die Tore von Southampton erstreckten. Ihr Ziel war Winchester. Tom hatte seine Werkzeuge verkauft, und der Erlös dafür war bereits bis auf wenige Pennys aufgezehrt. An seiner nächsten Arbeitsstelle würde er sich Werkzeuge borgen müssen – oder aber Geld, um sich neue zu kaufen. Er wusste nicht mehr ein noch aus; Winchester war seine letzte Hoffnung. In seiner Heimatstadt lebten noch Geschwister von ihm – aber er stammte aus dem Norden des Landes, und die Reise dauerte mehrere Wochen. Bis dahin wäre die Familie längst verhungert. Agnes war ein Einzelkind. Ihre Eltern waren tot. Feldarbeit gab es während des Winters keine. Vielleicht konnte Agnes in einem wohlhabenden Haus in Winchester eine Anstellung als Magd oder Küchenmädchen finden und auf diese Weise ein paar Pennys zusammenkratzen. Eins stand jedenfalls fest: Von Ort zu Ort ziehen konnte sie nicht mehr lange, denn ihre Stunde nahte.
    Aber auch nach Winchester waren es noch drei Tagesreisen, und der Hunger quälte sie. Brombeeren gab es keine mehr, es gab in der Nähe auch kein Kloster und keine Haferflocken mehr im Kochtopf, den Agnes auf dem Rücken trug. Am Abend zuvor hatten sie ein Messer gegen einen Laib Roggenbrot, vier Teller Suppe ohne Fleisch und ein Nachtlager in einer Bauernhütte eingetauscht.

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