Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
vom nächsten.«
    Tom sah leicht verärgert drein. »Von wem hast du das denn?«
    »Von niemandem. Aber die einzelnen Abschnitte des Seitenschiffs sind quadratisch; wenn sie also eine Rute breit sind, dann müssen sie auch eine Rute lang sein. Und die Abstände zwischen den Pfeilern des Mittelschiffs decken sich mit der Länge der Seitenschiffe, wie man sieht.«
    »Wie man sieht«, wiederholte Tom. »Du hättest Philosoph werden sollen.« In seiner Stimme schwangen Stolz und Ärger mit. Es freute ihn, dass Jack so schnell von Begriff war, aber dass die Geheimnisse der Baukunst von einem bloßen Knaben durchschaut werden konnten, bereitete ihm Verdruss.
    Jack jedoch nahm die ungeheure Logik des Gesamtplans viel zu sehr gefangen, als dass er sich über Toms Gefühle Gedanken gemacht hätte. »Der Altarraum muss demnach vier Ruten lang sein«, sagte er. »Und die Kirche insgesamt wird, wenn sie erst fertig ist, zwölf Ruten lang.« Schon kam ihm ein neuer Gedanke. »Und wie hoch soll sie werden?«
    »Sechs Ruten. Die Arkaden drei, dass Triforium eine, der Lichtgaden zwei Ruten hoch.«
    »Aber warum muss alles erst in Ruten berechnet werden? Wieso baut man nicht einfach Stein auf Stein drauflos, wie bei einem Haus?«
    »Zunächst einmal, weil es so billiger ist. Alle Bogen der Arkade sind identisch, sodass wir die Vorlagen immer wieder verwenden können. Je weniger Steine wir verwenden, die sich in Form und Größe unterscheiden, desto weniger Schablonen muss ich herstellen, und so weiter. Zweitens vereinfacht es unsere Arbeit grundsätzlich, vom ursprünglichen Bauplan, der ausschließlich auf Quadraten aus Ruten basiert, bis hin zum Weißeln der Wände, denn wir können besser abschätzen, wie viel Kalktünche wir benötigen. Und je einfacher eine Sache ist, um so weniger Fehler werden gemacht. Das Teuerste an einem Bau sind die Fehler. Und drittens sieht eine Kirche, die in ihren Ausmaßen auf Ruten basiert, gut aus. Das Geheimnis wahrer Schönheit sind die richtigen Proportionen.«
    Jack nickte wie verzaubert.
    Die Mühe und das Wissen, die erforderlich waren, um einen so ehrgeizigen und anspruchsvollen Bau wie den einer Kathedrale zu leiten, bildeten einen Quell endlosen Staunens für ihn. Der Gedanke, dass Regelmäßigkeit und Wiederholung nicht nur die Arbeit vereinfachten, sondern überdies für ein harmonisches Gesamtbild sorgten, war geradezu verführerisch einleuchtend. Aber ob das Geheimnis wahrer Schönheit tatsächlich nur in den Proportionen zu suchen war? Seinem Geschmack nach lag es eher in den ungezähmten, überbordenden, ausufernden Dingen wie in Alienas Haar.
    Jack schlang sein Essen hastig herunter und verließ das Dorf Richtung Norden. Es war ein warmer Frühsommertag, und er ging barfuß. Seit er mit seiner Mutter in Kingsbridge lebte und dort arbeitete, gönnte er sich bisweilen das Vergnügen, in den Wald zurückzukehren. Anfangs hatte er diese Ausflüge dazu benutzt, um überschüssige Kraft auszutoben, war gerannt und herumgesprungen, hatte Bäume erklettert und mit seiner Schleuder Jagd auf Enten gemacht. Damals hatte er sich erst an den neuen, größeren und stärkeren Körper, den er nun hatte, gewöhnen müssen, doch das war längst vorbei. Wenn er jetzt in den Wald ging, dachte er nach: über die Schönheit, die in den richtigen Proportionen schlummern sollte, über die Frage, warum Gebäude nicht einstürzten, sondern stehen blieben, und wie es sich wohl anfühlen mochte, Alienas Brüste zu streicheln.
    Seit Jahren schon betete er sie heimlich an. Das Bild, das sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte, rührte von ihrer ersten Begegnung her: Damals war sie in Earlscastle die Treppe zum Saal heruntergekommen, und er hatte sie für eine Märchenprinzessin gehalten. Und so entrückt wie damals war sie für ihn geblieben. Sie sprach mit Prior Philip, mit Tom Builder, mit dem Juden Malachi und mit allen anderen wohlhabenden und einflussreichen Leuten in Kingsbridge; er, Jack, hatte nie einen Grund gefunden, das Wort an sie zu richten. Er sah sie immer nur von Weitem: Wenn sie in der Kirche war und betete, wenn sie auf ihrem Zelter über die Brücke ritt oder vor ihrem Haus in der Sonne saß; im Winter trug sie kostbare Pelze und im Sommer feinstes Leinen, und ihr schönes Gesicht war stets umrahmt von ihrer wilden Lockenpracht. Jeden Abend vor dem Einschlafen überlegte er, wie schön es sein musste, wenn er ihr die Kleider abstreifen, sie nackt vor sich sehen und behutsam ihren weichen

Weitere Kostenlose Bücher