Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Mund küssen könnte.
Die Aussichtslosigkeit seiner Träumereien hatte ihn in letzter Zeit unzufrieden und niedergeschlagen gemacht. Es genügte ihm nicht mehr, Aliena aus der Ferne zu sehen, Brocken aus ihren Gesprächen mit anderen Leuten aufzuschnappen und sich vorzustellen, wie er sie lieben würde. Er wollte zur Tat schreiten.
Es gab etliche Mädchen seines Alters, bei denen er wohl zum Zuge gekommen wäre. Unter den Lehrlingen wurde ständig darüber geklatscht, welche der jungen Frauen von Kingsbridge entgegenkommend war und wie weit sie einen jungen Mann jeweils gehen ließ. Die meisten Mädchen waren fest entschlossen, bis zu ihrer Verheiratung, wie es die Kirche lehrte, Jungfrau zu bleiben, doch auch sie ließen einen dies oder jenes tun, Hauptsache, ihre Jungfernschaft blieb unangetastet. Jack hielten sie samt und sonders für komisch – und hatten damit, wie er meinte, nicht ganz unrecht –, aber ein oder zwei von ihnen fanden seine Fremdartigkeit anziehend. Eines Sonntags hatte er nach dem Kirchgang eine Unterhaltung mit Edith, der Schwester eines seiner Lehrlingskollegen begonnen; aber als er davon sprach, wie sehr er das Meißeln liebte, hatte sie angefangen zu kichern. Am darauffolgenden Sonntag war er mit Ann, der blonden Tochter des Schneidermeisters, in den Feldern spazieren gegangen. Er hatte nicht viel gesagt, sondern sie geküsst und schließlich vorgeschlagen, sich in einem grünen Gerstenfeld auszustrecken. Er hatte sie noch einmal geküsst und ihre Brüste berührt, und sie hatte ihn bereitwillig wieder geküsst; aber nach einer Weile hatte sie sich ihm entzogen und gefragt: »Wer ist sie?« Jack, der gerade an Aliena gedacht hatte, war wie vom Donner gerührt. Er hatte versucht, die Angelegenheit herunterzuspielen und sie wieder zu küssen, doch sie hatte das Gesicht abgewandt und gesagt: »Wer sie auch immer sein mag, sie hat das große Los gezogen!« Sie waren gemeinsam nach Kingsbridge zurückgegangen, und Ann hatte beim Abschied gesagt: »Vergeude deine Zeit nicht damit, sie dir aus dem Kopf zu schlagen. Es wird dir nicht gelingen. Du willst sie und keine andere; bemüh dich also lieber, sie zu erobern.« Dann hatte sie ihn liebevoll angelächelt und hinzugefügt: »Du hast ein hübsches Gesicht. Wahrscheinlich ist es gar nicht so schwer, wie du glaubst.«
Ihre Herzensgüte verursachte ihm um so mehr Pein, als sie unter den Lehrlingen als besonders freizügig galt und er aller Welt erzählt hatte, er wolle sich an sie heranmachen. Jetzt kam ihm dieses Geschwätz dermaßen kindisch vor, dass er vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Aber hätte er Ann den Namen der Frau genannt, die ihn Tag und Nacht verfolgte, hätte sie ihn gewiss nicht ermutigt. Eine unwahrscheinlichere Verbindung als zwischen Jack und Aliena ließ sich kaum vorstellen. Aliena war zweiundzwanzig, er siebzehn; sie war die Tochter eines Grafen, er ein Bastard; sie war eine reiche Wollhändlerin, er ein mittelloser Lehrling. Noch schwerer jedoch wog die Tatsache, dass sie geradezu berühmt war für die Zahl der Bewerber, die sich bei ihr einen Korb geholt hatten. In der ganzen Grafschaft gab es keinen vorzeigbaren jungen Herrn und keinen Erstgeborenen aus reichem Hause, der nicht schon nach Kingsbridge gekommen wäre, um ihr den Hof zu machen; und jeder hatte sich enttäuscht wieder auf den Heimweg gemacht. Wie sollte sich da ausgerechnet Jack, der außer einem »hübschen Gesicht« nichts aufzuweisen hatte, Hoffnungen machen?
Allerdings hatten Aliena und er eines gemeinsam: ihre Vorliebe für den Wald. Darin unterschieden sie sich von den meisten anderen Menschen, die die Sicherheit der Felder und Dörfer vorzogen und einen großen Bogen um den Wald machten. Aber Aliena machte häufig Spaziergänge in den Wäldern unweit von Kingsbridge, und sie hatte einen Lieblingsplatz, der abgeschieden lag und wo sie bisweilen Rast machte. Jack hatte sie ein- oder zweimal dort gesehen, war aber von ihr nicht bemerkt worden: Er bewegte sich so behutsam und lautlos, wie er es in der Kindheit gelernt hatte, als er sich seine Nahrung aus dem Wald hatte holen müssen.
Jetzt steuerte er auf die Lichtung zu, hatte aber nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte, wenn er tatsächlich auf Aliena stieß. Was er tun wollte, wusste er genau: sich neben sie legen und ihren Körper streicheln. Vielleicht sollte er ein Gespräch mit ihr beginnen – aber worüber? Mit Mädchen seines Alters hatte er da keine Schwierigkeiten.
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