Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Marktrechte aufzubringen!
Aliena stand in ihrem Lager und beaufsichtigte das Entladen eines turmhoch mit Wollsäcken bepackten Ochsenkarrens. Sie trug einen Mantel aus Brokat, wie die Kaiserin Mathilde ihn getragen hatte, und ihr Haar steckte unter einer weißen Leinenhaube. Sie wirkte gebieterisch wie immer, und die beiden Männer, die den Karren entluden, gehorchten ihr aufs Wort. Jedermann zollte ihr Respekt, aber enge Freunde hatte sie merkwürdigerweise keine. Sie begrüßte Philip herzlich. »Als wir Kunde von der Schlacht zu Lincoln erhielten, haben wir schon befürchtet, Ihr wäret ums Leben gekommen!«, sagte sie. Aus ihren Augen sprach echte Anteilnahme, und Philip war gerührt bei dem Gedanken, dass es Menschen gab, die sich um ihn sorgten. Er stellte sie Francis vor.
»Habt Ihr in Winchester Gerechtigkeit gefunden?«, wollte Aliena wissen.
»Nur zum Teil«, erwiderte Philip. »Kaiserin Mathilde hat uns die Genehmigung für den Markt erteilt, aber den Steinbruch vorenthalten. Das eine wiegt das andere mehr oder weniger auf. Allerdings verlangt sie hundert Pfund für die Gewährung der Marktrechte.«
»Das ist ja schrecklich!«, sagte Aliena entsetzt. »Ihr habt ihr doch gesagt, dass der Erlös aus dem Markt für den Bau der Kathedrale verwendet wird, oder?«
»Selbstverständlich.«
»Aber wo wollt Ihr denn hundert Pfund hernehmen?«
»Ich dachte, Ihr könntet mir vielleicht helfen.«
»Ich?«, meinte Aliena verblüfft.
»In ein paar Wochen, wenn Ihr Eure Wolle erst an dieFlamen verkauft habt, verfügt Ihr über zweihundert oder mehr Pfund.«
Aliena sah bekümmert drein. »Die ich Euch nur allzu gerne geben würde, aber ich brauche sie, um nächstes Jahr wieder Wolle kaufen zu können.«
»Erinnert Ihr Euch noch, dass Ihr meine Wolle kaufen wolltet?«
»Ja, aber dazu ist es jetzt zu spät. Ich wollte sie zu Beginn der Saison haben. Außerdem könnt Ihr sie jetzt bald selbst verkaufen.«
»Ich habe mir überlegt«, sagte Philip, »ob ich Euch vielleicht die Wolle aus dem nächsten Jahr verkaufen kann?«
Sie runzelte die Stirn. »Aber die habt Ihr ja noch nicht!«
»Kann ich sie Euch nicht im Voraus verkaufen?«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Ganz einfach. Ihr gebt mir das Geld jetzt. Ich gebe Euch die Wolle nächstes Jahr.«
Aliena wusste ganz offensichtlich nicht, was sie von diesem Vorschlag halten sollte; auf solche Weise wurden normalerweise keine Geschäfte getätigt. Für Philip war dieses Gebaren nicht minder fremd: Die Idee dazu war ihm eben erst gekommen.
Aliena sprach langsam und bedächtig. »Ich müsste Euch einen geringfügig niedrigeren Preis bieten als den, den Ihr durch Warten selbst erzielen könnt. Außerdem ist es gut möglich, dass der Wollpreis bis zum nächsten Sommer noch steigt – seit ich im Geschäft bin, war das bisher jedes Jahr der Fall.«
»Also erleide ich einen kleinen Verlust, und Ihr erzielt einen kleinen Gewinn«, sagte Philip. »Aber zumindest kann ich ein Jahr lang weiterbauen.«
»Aber was werdet Ihr nächstes Jahr tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht verkaufe ich Euch dann wieder die Wolle des nächsten Jahres.«
Aliena nickte. »Das klingt vernünftig.«
Philip nahm ihre Hände in seine und schaute ihr in die Augen. »Wenn Ihr das tut, Aliena, dann rettet Ihr damit die Kathedrale«, sagte er eindringlich.
Aliena wirkte sehr ernst. »Einst wart Ihr es, der mich gerettet hat, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Dann sind wir jetzt quitt.«
»Gott segne Euch!« Im Überschwang seiner Dankbarkeit nahm Philip sie in die Arme und drückte sie an sich – bis ihm plötzlich einfiel, dass sie ja eine Frau war. Hastig rückte er wieder von ihr ab. »Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll«, sagte er. »Ich war mit meinem Latein völlig am Ende.«
Aliena lachte. »Ich glaube nicht, dass ich so viel Dankbarkeit verdiene. Wahrscheinlich fahre ich bei diesem Geschäft sehr gut.«
»Das will ich doch hoffen.«
»Lasst uns den Handel doch mit einem Becher Wein besiegeln«, schlug Aliena vor. »Ich bezahle nur eben noch den Fuhrmann.«
Der Ochsenkarren war leer und die Ladung Säcke fein säuberlich aufgestapelt. Philip und Francis gingen nach draußen, während Aliena mit dem Fuhrmann abrechnete. Die Sonne ging gerade unter, und die Bauleute traten den Heimweg an. Philip fühlte sich wieder obenauf: Trotz aller Rückschläge hatte er eine Lösung für seine Probleme gefunden! »Gott sei gedankt, dass es Aliena gibt!«, entfuhr es
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