Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Zu Edith hatte er neckend gesagt: »Dein Bruder erzählt die schlimmsten Sachen über dich, aber ich glaube ihm kein einziges Wort «, worauf sie prompt hatte wissen wollen, was ihr Bruder herumtratschte. Und Ann hatte er ganz direkt gefragt, ob sie ihn auf einem Spaziergang durch die Felder begleiten wolle. Aber wenn es darum ging, sich eine entsprechende Anrede für Aliena zurechtzulegen, war sein Kopf wie leer gefegt. In seinen Augen gehörte sie, ihres ernsten und respekteinflößenden Gebarens wegen, schon zur älteren Generation. Dabei erinnerte er sich noch genau, wie verspielt sie mit siebzehn gewesen war. Seitdem hatte sie viel durchgemacht; trotzdem musste sich irgendwo hinter der Maske der Ernsthaftigkeit noch das kleine, verspielte Mädchen verstecken. Das machte sie für Jack nur noch anziehender.
Er näherte sich der Lichtung. Um die Mittagszeit, wenn es am heißesten war, herrschte Stille im Wald, und Jack bewegte sich geräuschlos durch das Unterholz. Er wollte sie finden, bevor sie ihn entdeckte. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er den Mut aufbringen würde, sie anzusprechen. Am meisten fürchtete er sich jedoch davor, einen schlechten Eindruck auf sie zu machen. Ein einziges Mal hatte er mit ihr geredet, und zwar an jenem Pfingstsonntag, als er nach Kingsbridge zurückgekehrt war; damals hatte er das Falsche gesagt, mit dem Ergebnis, dass sie seit vier Jahren kaum ein Wort gewechselt hatten. Dieses Missgeschick sollte ihm nicht noch einmal passieren!
Wenige Augenblicke später äugte er hinter einer Buche hervor und erblickte sie.
Sie hatte sich ein außergewöhnlich schönes Plätzchen ausgesucht. Ein kleiner Wasserfall ergoss sich plätschernd in einen tiefen, von bemoosten Steinen umgebenen Teich, dessen Ufer in der Sonne lag. Aliena saß im Halbschatten unter einer Buche und las.
Jack war verblüfft. Eine Frau, die ein Buch las? Im Freien? Nur Mönche lasen Bücher, und auch die selten etwas anderes als Gebete. Alienas Buch war dazu noch ungewöhnlich, viel kleiner als die Bände in der Klosterbibliothek; es sah aus, als wäre es speziell für eine Frau gemacht worden oder für jemanden, der es mit sich herumtragen wollte. Jacks Überraschung war so groß, dass er seine Schüchternheit vergaß. Rasch trat er auf die Lichtung und fragte: »Was lest Ihr da?«
Sie fuhr zusammen und blickte erschrocken zu ihm auf. Herrje, er hatte ihr Angst eingejagt! Er fühlte sich unbeholfen und fürchtete schon, auch diesmal wieder ins Fettnäpfchen getreten zu sein, denn mit der Rechten griff sie blitzschnell in ihren linken Ärmel. Richtig, sie pflegte dort früher ein Messer zu tragen, und vielleicht tat sie das immer noch. Doch dann hatte sie ihn erkannt, und ihre Angst verflog ebenso schnell, wie sie gekommen war. Sie wirkte erleichtert, bedauerlicherweise aber auch ein wenig ungehalten. Er kam sich vor wie ein Störenfried und wäre am liebsten sofort wieder im Wald verschwunden. Doch das hätte es nur noch schwieriger gemacht, sie ein andermal anzusprechen, daher wich er nicht von der Stelle, nahm angesichts ihrer unfreundlichen Miene all seinen Mut zusammen und sagte: »Es tut mir leid, dass ich Euch erschreckt habe.«
»Ihr habt mich nicht erschreckt «, erwiderte sie rasch.
Er wusste, dass sie log, doch es lohnte nicht, mit ihr darüber zu streiten. Statt dessen wiederholte er seine ursprüngliche Frage: »Was lest Ihr da?«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, und sie betrachtete nachdenklich das gebundene Bändchen auf ihren Knien. »Mein Vater hat dieses Buch auf seiner letzten Reise in die Normandie erstanden und für mich mitgebracht. Ein paar Tage später wurde er ins Gefängnis gesteckt.«
Jack rückte ein wenig näher und warf einen Blick auf die aufgeschlagene Seite. »Das ist ja Französisch!«, sagte er.
»Woher wisst Ihr das?«, fragte sie erstaunt. »Könnt Ihr denn lesen?«
»Ja – aber ich dachte, es gäbe nur lateinische Bücher.«
»Das stimmt auch. Dies hier ist eine Ausnahme. Es ist ein Gedicht und heißt ›Das Alexanderlied‹.«
Ich habe es wahr gemacht, dachte Jack – ich rede mit ihr! Wie wunderbar! Aber was nun? Wie bringe ich sie zum Weiterreden? Verlegen fragte er: »Hm … äh, wovon handelt es denn?«
»Es ist die Geschichte von einem König, der Alexander der Große heißt und wunderbare Länder im Osten erobert, wo Edelsteine auf Weinstöcken wachsen und Blumen sprechen können.«
Jack war so beeindruckt, dass er seine Unsicherheit vergaß.
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