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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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»Wie sprechen die Blumen denn? Haben sie einen Mund?«
    »Das wird nicht erklärt.«
    »Glaubt Ihr, die Geschichte ist wahr?«
    Sie sah ihn aufmerksam an, und er blickte in ihre wunderschönen Augen. »Ich weiß es nicht«, gab sie zurück. »Ich frage mich oft, ob die Geschichten wahr sind. Den meisten Leuten ist es egal, Hauptsache, die Geschichten gefallen ihnen.«
    »Den Priestern ist es nicht egal. Die glauben, alle heiligen Geschichten sind wahr.«
    »Die sind natürlich auch wahr!«
    Jack hegte an den heiligen Geschichten die gleichen Zweifel wie an allen anderen auch; doch seine Mutter, die ihn diese Skepsis gelehrt, hatte ihn außerdem gelehrt, taktvoll zu schweigen, und so widersprach er nicht. Er gab sich alle Mühe, nicht auf Alienas Busen zu schauen, der sich genau am Rande seines Blickfelds befand: Wenn er den Blick senkte, hätte sie sofort gewusst, wo er hinsah. Er überlegte, was er ihr sonst noch sagen konnte. »Ich kenne viele Geschichten«, meinte er schließlich. »Ich kenne das ›Rolandslied‹, das ›Wilhelmslied‹ –«
    »Wie meint Ihr das: Ihr kennt sie?«
    »Ich kann sie rezitieren.«
    »Wie ein Spielmann?«
    »Was ist ein Spielmann?«
    »Ein Mann, der herumreist und Geschichten erzählt.«
    Das war neu für Jack. »Davon höre ich heute zum ersten Mal.«
    »In Frankreich gibt es viele. Als Kind bin ich mit meinem Vater oft hinübergefahren. Die Spielleute haben mir immer besonders gut gefallen.«
    »Aber was tun sie? Auf der Straße stehen und reden?«
    »Das kommt drauf an. An Festtagen kommen sie in die Halle des Herrn. Sie treten auf Märkten und Messen auf. Sie unterhalten die Pilger vor den Kirchen. Der hohe Adel hält sich mitunter seine eigenen Spielleute.«
    Jack ging auf, dass er nicht nur mit ihr sprach, sondern eine richtige Unterhaltung mit ihr führte, die er mit keinem anderen Mädchen in Kingsbridge hätte führen können. Aliena und er waren außer seiner Mutter bestimmt die einzigen Menschen in der ganzen Stadt, die die französischen Heldenlieder kannten. Sie hatten etwas gemeinsam und konnten sich darüber unterhalten! Diese Erkenntnis war so überwältigend, dass Jack den Faden verlor und sich wie ein verwirrter Tölpel vorkam.
    Glücklicherweise sprach Aliena schon weiter: »Normalerweise spielt der Spielmann die Geige zu seiner Geschichte. Erzählt er von einer Schlacht, so spielt er sehr schnell und hoch, sind zwei Menschen verliebt, spielt er langsam und betörend und an den lustigen Stellen kurze abgehackte Töne.«
    Jack gefiel die Vorstellung, die Höhepunkte einer Geschichte mit Musik zu untermalen. »Ich wünschte nur, ich könnte Geige spielen.«
    »Könnt Ihr wirklich Geschichten rezitieren?«, fragte sie.
    Er konnte sein Glück kaum fassen: Aliena war wirklich an ihm interessiert und fragte ihn sogar aus! Und ihr Gesicht war noch lieblicher, wenn die Neugier sie plagte. »Meine Mutter hat es mir beigebracht«, sagte er. »Wir haben im Wald gelebt, nur wir zwei. Sie hat mir die Geschichten immer wieder erzählt.«
    »Aber wie könnt Ihr sie Euch merken? Es gibt Geschichten, für die man Tage braucht!«
    »Ich weiß auch nicht. Es ist so ähnlich, wie man sich in einem Wald zurechtfindet. Man hat nicht den gesamten Wald im Kopf, aber wo man auch sein mag, man weiß von dort immer weiter.« Er sah wieder in ihr Buch – und machte eine Entdeckung. Er setzte sich neben sie ins Gras und schaute genauer hin. »Die Reime sind anders«, sagte er.
    Sie wusste nicht genau, was er meinte. »Inwiefern?«
    »Sie sind besser. Im ›Rolandslied‹ wird das Wort König mit Richter gereimt. In Eurem Buch reimt sich Schwert auf Pferd, auf Herd , auf kehrt, aber nicht auf Herr. Diese Reime sind ganz anders. Viel, viel besser. Mir gefallen sie.«
    »Würdet Ihr …«, begann Aliena zaghaft. »Würdet Ihr mir ein Stück aus dem ›Rolandslied‹ vortragen?«
    Jack setzte sich zurecht, sodass er sie dabei ansehen konnte. Die Intensität ihres Blickes und der Anflug von Eifer in ihren bezaubernden Augen machten ihm zu schaffen. Er schluckte heftig und begann:
    Schöpfer aller Dinge,
Kaiser aller Könige,
Wohl, du oberster Richter
lehre mich selbst deine Worte.
Sende mir zu Munde
deine heilige Urkunde,
dass ich die Lüge vermeide,
die Wahrheit schreibe,
von einem theuerlichen Mann,
wie er das Reich Gottes gewann:
Das ist Karl der Kaiser …
    Jack machte eine Pause, und Aliena rief aus: »Ihr könnt es tatsächlich! Kaum zu fassen! Genau wie ein Spielmann!«
    »Aber Ihr seht

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