Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Eingebung folgend fragte Aliena sie jetzt: »Ellen, wo habt Ihr denn die Geschichten gelernt?«
»Von Jacks Vater«, erwiderte Ellen, ohne nachzudenken, doch gleich darauf verdüsterte sich ihr Gesicht, und Aliena wusste, dass sie besser daran tat, keine weiteren Fragen mehr zu stellen.
Ihr kam ein neuer Einfall. »Könnt Ihr weben?«
»Natürlich«, meinte Ellen. »Das kann doch jeder, oder?«
»Was hieltet Ihr davon, gegen Bezahlung zu weben?«
»Das kommt drauf an. Was habt Ihr im Sinn?«
Aliena erklärte es ihr. Ellen hatte natürlich genug Geld, aber das verdiente Tom, und Aliena vermutete, dass Ellen ein eigenes Einkommen nicht verschmähen würde.
Ihre Vermutung erwies sich als richtig. »Einverstanden, ich werde es versuchen.«
In diesem Augenblick kam Ellens Stiefsohn des Weges. Alfred war, ähnlich wie sein Vater, ein wahrer Hüne von einem Mann. Sein Gesicht war bis auf die eng beieinanderliegenden Augen von einem buschigen Bart bedeckt, was ihn listig erscheinen ließ. Er konnte lesen, schreiben und rechnen, war aber ansonsten ziemlich dumm. Dennoch hatte er es zu Wohlstand gebracht und verfügte über seine eigene Mannschaft von Steinmetzen, Lehrlingen und Gehilfen. Aliena hatte die Beobachtung gemacht, dass große Männer es, unabhängig von ihrer Klugheit, oft zu Macht und Einfluss brachten. Und außerdem zahlte sich Alfreds Position noch in anderer Hinsicht aus: Da sein Vater Dombaumeister von Kingsbridge war, liefen seine Männer nie Gefahr, ohne Arbeit dazustehen.
Er setzte sich neben sie ins Gras. Seine riesigen Füße steckten in schweren, mit grauem Steinstaub bedeckten Lederstiefeln. Sie redete kaum je mit ihm. Eigentlich sollten sie, die einzigen jungen Leute unter den bessergestellten Bürgern von Kingsbridge, die dazu alle in den der Klostermauer nächstgelegenen Häusern wohnten, etliches gemein haben, aber Alfred war einfach fade und langweilig. Nach einem Moment des Schweigens ergriff er das Wort. »Eigentlich sollten wir eine Kirche aus Stein haben«, sagte er völlig zusammenhanglos.
Er erwartete ganz offensichtlich von den Anwesenden, sich selbst ihren Reim auf diese Bemerkung zu machen. Aliena dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann: »Meint Ihr damit die Pfarrkirche?«
»Was sonst?«, gab er zurück, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.
Da die von den Mönchen in Anspruch genommene Krypta der Kathedrale sehr klein und stickig und die Bevölkerung von Kingsbridge gewachsen war, wurde die Pfarrkirche in jüngster Zeit immer häufiger benutzt. Und das, obwohl der alte Holzbau lediglich ein strohgedecktes Dach und einen festgestampften Lehmboden hatte.
»Da habt Ihr recht«, sagte Aliena. »Wir sollten wirklich eine Kirche aus Stein haben.«
Alfred sah sie erwartungsvoll an. Sie fragte sich, was er wohl hören wollte.
Ellen hatte offenbar mehr Übung darin, ihm alles aus der Nase zu ziehen. »Was hast du im Sinn, Alfred?«, fragte sie ihn.
»Wie entsteht überhaupt eine Kirche?«, wollte er wissen. »Will sagen, was müssen wir tun, wenn wir eine Kirche aus Stein haben wollen?«
Ellen zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Aliena runzelte die Stirn. »Ihr könntet eine Kirchengilde ins Leben rufen«, schlug sie vor. Kirchengilden waren Vereinigungen, deren Mitglieder ab und zu Bankette veranstalteten und untereinander Geld sammelten, das gemeinhin für den Kauf von Kerzen für die Pfarrkirche oder zur Unterstützung von Witwen und Waisen in der Umgebung verwendet wurde. In kleinen Dörfern gab es nie eine Kirchengilde, aber Kingsbridge war schließlich kein Dorf mehr.
»Inwiefern wäre das der Kirche förderlich?«, fragte Alfred.
»Die Gildemitglieder würden das Geld für die neue Pfarrkirche aufbringen«, sagte Aliena.
»Dann sollten wir eine Kirchengilde ins Leben rufen«, meinte Alfred.
Aliena fragte sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Er war ihr nie sonderlich fromm vorgekommen, doch nun bemühte er sich offenbar ernsthaft darum, Geld für den Bau einer neuen Kirche aufzutreiben. Vielleicht gründeten stille Wasser tatsächlich tief? Doch dann fiel ihr ein, dass Alfred der einzige Baumeister in Kingsbridge war, der für den Bau der neuen Kirche in Frage kam. So sehr es ihm auch an Klugheit gebrach – gerissen war er allemal.
Trotzdem gefiel ihr sein Einfall. Kingsbridge entwickelte sich allmählich zu einer richtigen Stadt, und in jeder Stadt gab es mehr als eine Kirche. Solange es keine Alternative zur Kathedrale gab,
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