Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wurde die Stadt quasi vom Kloster regiert. Im Augenblick war Philip ihr unbestrittener Herr und Meister. Und obwohl er ein mildtätiger Tyrann war, konnte sie sich doch eine Zeit vorstellen, da den Händlern der Stadt eine eigene Kirche durchaus zupass käme.
Alfred sagte: »Vielleicht könntet Ihr den anderen die Sache erklären?«
Aliena hatte sich mittlerweile von ihrem Wettlauf erholt. Zwar tauschte sie die Gesellschaft von Ellen und Jack nur ungern gegen die von Alfred ein, aber seine Idee gefiel ihr; eine Ablehnung wäre außerdem mehr als grob erschienen. »Aber gerne«, sagte sie, erhob sich und ging mit ihm fort.
Die Sonne ging unter. Die Mönche hatten das Johannisfeuer entfacht und teilten das traditionelle, mit Ingwer gewürzte Bier aus. Jack war mit seiner Mutter allein und wollte die Gelegenheit nutzen, um ihr eine Frage zu stellen, aber er fand nicht die rechten Worte. Dann stimmte jemand ein Lied an, und da er wusste, dass sie jeden Augenblick einstimmen würde, platzte er übergangslos mit seiner Frage heraus: »War mein Vater ein Spielmann?«
Sie sah ihn an, überrascht, aber nicht verärgert. »Wer hat dir denn dieses Wort beigebracht?«, wollte sie wissen. »Du hast doch noch nie einen gesehen.«
»Aliena. Sie ist mit ihrem Vater früher immer nach Frankreich gereist.«
Ellen ließ ihren Blick über die düstere Weide zum Lagerfeuer schweifen. »Ja, er war Spielmann. Er hat mir all die Geschichten beigebracht, genauso wie ich sie an dich weitergegeben habe. Und du erzählst sie jetzt Aliena?«
»Ja.« Jack fühlte sich beklommen.
»Du liebst sie sehr, oder?«
»Ist das so offenkundig?«
Sie lächelte liebevoll. »Ich glaube nicht, dass es außer mir jemandem aufgefallen ist. Sie ist erheblich älter als du.«
»Fünf Jahre.«
»Du wirst sie schon erobern. Du gleichst deinem Vater. Er konnte jede Frau haben, auf die er es abgesehen hatte.«
So verlegen es Jack machte, über Aliena zu reden, so überglücklich war er, Näheres über seinen Vater in Erfahrung zu bringen, und konnte es gar nicht abwarten, noch mehr zu hören, doch zu seinem großen Leidwesen kam in eben diesem Moment Tom daher und setzte sich zu ihnen. Er ergriff sogleich das Wort. »Ich habe mich mit Prior Philip über Jack unterhalten«, sagte er. Sein Tonfall klang unbeschwert, dennoch spürte Jack eine unterschwellige Spannung. Ihm schwante nichts Gutes. »Philip meint, der Junge braucht eine Ausbildung.«
Ellens Erwiderung fiel, wie nicht anders erwartet, ungehalten aus. »Er hat bereits eine Ausbildung genossen«, sagte sie. »Er kann Englisch und Französisch, lesen und schreiben. Er kann rechnen und außerdem noch ganze Gedichtbände auswendig –«
»Sachte, sachte, versteh mich nicht absichtlich falsch«, unterbrach Tom entschieden. »Philip hat nicht behauptet, Jack sei ein Dummkopf. Ganz im Gegenteil. Er meint, dass Jack intelligent genug ist, um noch besser ausgebildet zu werden.«
Jack machte sich gar nichts aus dieser Lobrede. Er teilte die Abneigung seiner Mutter gegen Geistliche. Irgendetwas war bestimmt faul an der Sache.
»Besser?«, gab Ellen verächtlich zurück. »Was soll er denn nach Meinung dieses Mönches sonst noch lernen? Ich weiß schon. Theologie, Latein, Rhetorik, Metaphysik. Kuhscheiße.«
»Du solltest diesen Vorschlag nicht so schnell von der Hand weisen«, sagte Tom begütigend. »Wenn Jack Philips Angebot annimmt und zur Schule geht, dort eine gut lesbare Sekretärsschnellschrift lernt, Latein, Theologie und die anderen, von dir als Kuhscheiße bezeichneten Fächer studiert, dann könnte er bei einem Grafen oder Bischof eine Stellung als Schreiber bekommen und es schließlich zu Wohlstand und Einfluss bringen. Nicht alle Grafen sind Grafensöhne, wie es so schön heißt.«
Ellens Augen verengten sich gefährlich. »Wenn er Philips Angebot annimmt, hast du gesagt. Wie lautet denn Philips Angebot im Klartext?«
»Dass Jack Novize wird –«
»Nur über meine Leiche!«, rief Ellen und sprang auf. »Die verdammte Kirche wird meinen Sohn nicht kriegen. Diese hinterhältigen, verlogenen Priester haben mir seinen Vater genommen, aber ihn werden sie mir nicht nehmen, und wenn ich Philip ein Messer in den Bauch rammen muss, das schwöre ich bei allen Göttern!«
Es war dies nicht der erste Wutanfall, den Tom an Ellen beobachtete, und er schien nicht sonderlich beeindruckt. Er sagte ruhig: »Was, zum Teufel, ist nur los mit dir, Weib? Diesem Jungen ist eine großartige Chance geboten
Weitere Kostenlose Bücher