Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
gedeckt.
Der Anblick der Frauen von Kingsbridge, die sich von ihrem Wettlauf erholten, brachte sie auf den Gedanken, dass die meisten von ihnen wussten, wie man aus Rohwolle Tuch herstellt. Die Arbeit war langwierig, aber einfach: Die Bauersfrauen taten sie schon seit Adams und Evas Zeiten. Die Vliese mussten zunächst gewaschen werden, dann gekämmt, um die verfilzten Stellen zu entfernen, und schließlich versponnen. Daraufhin wurde das Garn zu losem Tuch verwebt, welches gewalkt werden musste, damit es einlief und dichter wurde und zur Herstellung von Kleidung weiterverwendet werden konnte. Die Frauen der Stadt würden diese Arbeit wahrscheinlich für einen Penny am Tag verrichten. Aber wie lange brauchten sie wohl? Und wie viel brachte das fertige Tuch ein?
Sie würde ihren Plan erst einmal an einer kleinen Menge Wolle ausprobieren müssen. Sollte ihre Rechnung aufgehen, dann konnte sie mehrere Leute beauftragen, an den langen Winterabenden für sie zu arbeiten.
Sie setzte sich auf, voller Begeisterung über ihren neuen Plan. Ellen lag unmittelbar neben ihr. Jack saß auf der anderen Seite neben seiner Mutter. Ihre Blicke kreuzten sich; er lächelte leicht und schaute dann weg, als ob es ihn verlegen machte, wenn sie sah, wie er sie anschaute. Er war schon ein merkwürdiger Junge; an neuen Ideen herrschte bei ihm nie Mangel. Aliena konnte sich noch an den kleinen, seltsam aussehenden Knaben erinnern, der nicht wusste, wo die kleinen Kinder herkamen. In der ersten Zeit seines Aufenthalts in Kingsbridge war er ihr kaum aufgefallen. Inzwischen schien er sich dermaßen verändert zu haben, dass man fast meinen konnte, eine andere Person vor sich zu haben; es war beinahe, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, einer Blume gleich, die eines Morgens erscheint, wo am Vortag nichts als blanke Erde war. Vor allem sah er nicht mehr so komisch aus. Die Mädchen finden ihn wahrscheinlich sogar furchtbar nett, dachte sie und betrachtete ihn heiter. Sein Lächeln war auf jeden Fall sehr anziehend. Sie selbst schenkte seinem Äußeren kaum Beachtung, aber seine unglaubliche Fantasie nahm sie doch ein wenig gefangen. Mittlerweile hatte sie herausgefunden, dass er nicht nur mehrere Erzählungen in Versform auswendig wusste – und einige davon waren mehrere tausend Zeilen lang! –, sondern auch aus dem Stegreif dichten konnte, sodass sie nie wusste, ob er sich wirklich an den Text erinnerte oder dazuerfand. Und seine Geschichten waren nicht das einzig Überraschende an ihm: Auch seine Neugier war unbezähmbar, und er machte sich Gedanken über Dinge, die andere Leute als selbstverständlich hinnahmen. Eines Tages hatte er gefragt, woher all das Wasser im Fluss käme. »Stunde um Stunde, Tag und Nacht, jahrein, jahraus fließen abertausend Fass Wasser an Kingsbridge vorüber. Das geht nun schon so seit der Zeit vor unserer Geburt, vor der Geburt unserer Eltern, ja sogar vor der Geburt ihrer Eltern. Wo kommt es her? Gibt es irgendwo einen riesigen See, der den Fluss speist? Dann muss er so groß wie ganz England sein! Und was passiert, wenn er eines Tages austrocknet?« Er redete dauernd von solchen Dingen, wenn auch nicht immer so weit hergeholten, und Aliena merkte allmählich, wie sehr sie kluge Gespräche entbehrte. In Kingsbridge konnten die meisten Leute nur über Landwirtschaft und Ehebruch reden, und Aliena interessierte sich weder für das eine noch für das andere. Prior Philip war natürlich eine Ausnahme, gestattete sich aber nur selten das Vergnügen, ein Schwätzchen zu halten: Er hatte unentwegt alle Hände voll zu tun, musste sich um den Dombau, die Mönche oder die städtischen Angelegenheiten kümmern. Aliena nahm an, dass Tom Builder ebenfalls einen klugen Kopf besaß, aber er war eher ein Denker denn ein Schwätzer. Jack war der erste Mensch, mit dem sie Freundschaft geschlossen hatte. Trotz seiner Jugend war er eine wunderbare Offenbarung. Es war sogar vorgekommen, dass sie sich auf ihren Reisen darauf freute, nach Kingsbridge zurückzukehren und mit Jack reden zu können.
Sie fragte sich, woher seine Einfälle wohl kommen mochten. Bei diesem Gedanken nahm sie Ellen zum ersten Mal wirklich wahr. Wer ein Kind allein im Wald aufzog, musste erst recht merkwürdig sein! Aliena hatte sich mit Ellen unterhalten und war dabei auf eine Seelenverwandte gestoßen, eine unabhängige und eigenständige Frau, die mit der Art und Weise, wie das Leben mit ihr umgesprungen war, ein wenig haderte. Einer plötzlichen
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