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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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worden.«
    Auf Jack hatten die Worte Diese hinterhältigen, verlogenen Priester haben mir seinen Vater genommen den größten Eindruck gemacht. Was meinte sie damit? Er hätte am liebsten gefragt, kam aber nicht zu Wort.
    »Jack wird kein Mönch, niemals!«, schrie sie.
    »Wenn er kein Mönch werden will, dann wird ihn auch niemand dazu zwingen.«
    Ellen schaute missmutig drein. »Dieser mit allen Wassern gewaschene Prior schafft es irgendwie immer, seinen eigenen Kopf durchzusetzen«, sagte sie.
    Tom wandte sich an Jack. »Es ist langsam Zeit, dass du dich auch mal äußerst, Junge. Was willst du denn mit deinem Leben anfangen?«
    Jack hatte noch nie über diese Frage nachgedacht, doch seine Antwort kam sofort und ohne Zögern, als hätte er seinen Entschluss schon seit langem gefasst: »Ich will Baumeister werden wie du«, sagte er. »Ich will die schönste Kathedrale bauen, die die Welt je gesehen hat.«
    Der rote Rand der Sonnenscheibe verschwand hinter dem Horizont, und die Nacht brach an. Es wurde Zeit für das letzte Ritual der Johannisfeier, für die schwimmenden Wünsche. Jack hatte schon einen Kerzenstumpf und ein Stück Holz bereit. Er sah Ellen und Tom an, die ihn beide ein wenig ratlos betrachteten. Die Bestimmtheit, mit der er über seine Zukunft gesprochen, hatte sie überrascht. Kein Wunder – ihn selbst auch.
    Als er merkte, dass sie dem nichts mehr hinzuzufügen hatten, sprang er auf und lief quer über die Wiese auf das Feuer zu. Er entzündete einen trockenen Zweig, brachte das Ende der Kerze ein wenig zum Schmelzen und befestigte sie auf dem Holzstück; dann entzündete er den Docht. Die meisten Dorfbewohner waren ebenfalls damit beschäftigt. Wer sich keine Kerze leisten konnte, fertigte aus trockenem Gras und Binsen eine Art Boot und zwirbelte die Halme in der Mitte zu einem Docht zusammen.
    Jack sah, dass Aliena nicht weit von ihm stand. Ihr Gesicht leuchtete im roten Schein des Johannisfeuers, und sie sah aus, als wäre sie tief in Gedanken versunken. »Was werdet Ihr Euch wünschen, Aliena?«, platzte er heraus.
    »Frieden«, sagte sie, und ihre Antwort kam, ohne zu zögern. Dann wandte sie sich ein wenig erschrocken ab.
    Jack fragte sich, ob es verrückt war, sie zu lieben. Sie mochte ihn, ja sie waren gute Freunde geworden; aber die Vorstellung, nackt nebeneinander zu liegen und heiße Küsse auszutauschen, war ihr ebenso fremd wie ihm nahe.
    Sobald alle ihre Vorbereitungen getroffen hatten, knieten sie sich am Flussufer nieder oder wateten in das seichte Wasser hinein. Jeder hielt sein flackerndes Licht hoch und wünschte sich etwas. Jack schloss fest die Augen und stellte sich vor, wie Aliena, die Brüste von der Decke entblößt, im Bett lag, ihre Arme ausbreitete und sagte: »Komm und liebe mich, mein Gatte.« Dann ließen alle ihre Lichter vorsichtig ins Wasser gleiten. Wenn das Treibholz versank oder die Flamme erlosch, so bedeutete das, der Wunsch würde nie in Erfüllung gehen. Kaum hatte Jack sein kleines Boot zu Wasser gelassen, schwamm es auch schon fort, der hölzerne Unterbau verschwand aus seinem Blickfeld, und nur die Flamme war noch sichtbar. Eine Weile lang beobachtete er sie gespannt, bis er sie unter den Hunderten tanzender Lichter, die auf dem Wasser hin und her schaukelten, nicht mehr ausmachen konnte; die flackernden Wünsche drifteten flussabwärts, bis sie in der Flussbiegung verschwunden und keiner mehr gesehen ward.
    +++
    Den ganzen Sommer lang erzählte Jack Aliena Geschichten. Zunächst trafen sie sich gelegentlich, dann regelmäßig jeden Sonntag auf der Lichtung bei dem kleinen Wasserfall. Er erzählte ihr von Karl dem Großen und seinen Rittern, von Willehalm und von den Sarazenen. Dabei ging er völlig in seinen Geschichten auf. Aliena liebte es, zu beobachten, wie sich die Miene in seinem jungen Gesicht mit den wechselnden Geschicken des Liedes wandelte: Ungerechtigkeit wurde mit Empörung, Verrat mit Abscheu quittiert, die Tapferkeit eines Ritters brachte ihn schier aus dem Häuschen, und ein Heldentod rührte ihn zu Tränen. Seine Gefühle waren so ansteckend, dass auch sie davon ergriffen wurde. Manche der Lieder waren zu lang, um sie an einem einzigen Nachmittag vorzutragen, und wenn er eine Geschichte unterbrach, so stets im spannendsten Moment, worauf Aliena sich die ganze Woche lang Gedanken darüber machte, wie sie wohl weiterginge.
    Sie verriet nie auch nur ein Sterbenswörtchen von ihren Zusammenkünften. Über die Beweggründe dafür war sie

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