Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
ihm ihr Herz nur so zu; trotzdem wünschte sie sich bisweilen, er käme auch charakterlich mehr auf seinen Vater heraus.
Eigentlich hatte sie kein Recht, mit Richard unzufrieden zu sein. Er zog in den Krieg und schlug sich tapfer, und mehr konnte man von ihm nicht verlangen. Doch in letzter Zeit war sie häufig unzufrieden, trotz ihres Reichtums und ihrer Sicherheit, trotz ihres Hauses und ihrer Diener, trotz bester Kleidung, schönem Schmuck und einer angesehenen Stellung in der Stadt. Wäre sie gefragt worden, so hätte sie ohne zu zögern behauptet, glücklich zu sein. Aber unter der Oberfläche machte sich eine gewisse Unruhe breit. Sie verlor nie die Freude an ihrer Arbeit, aber stellte sich manchen Morgen die Frage, ob es wirklich darauf ankam, welches Gewand sie trug und ob sie überhaupt Schmuck anlegte. Es krähte ja doch kein Hahn danach, warum sollte sie sich also die Mühe machen? Trotz alledem war sie sich ihres Körpers bewusster geworden. Sie spürte genau, wie ihre Brüste sich beim Gehen bewegten. Wenn sie zum Baden an den Frauenstrand am Flussufer ging, schämte sie sich ihrer Behaarung. Beim Reiten spürte sie die Körperteile, die mit dem Sattel in Berührung kamen. Es war wirklich merkwürdig, fast, als würde sie ständig von einem Schnüffler verfolgt, der durch ihre Kleidung hindurch einen Blick auf ihren nackten Körper erhaschen wollte; der Schnüffler war sie selbst, und sie verletzte ihre eigene Intimsphäre.
Außer Atem ließ sie sich ins Gras fallen. Der Schweiß rann ihr zwischen den Brüsten und Schenkeln hinunter. Ungeduldig wandte sie ihre Gedanken einer wichtigeren Angelegenheit zu: Sie hatte dieses Jahr nicht ihren gesamten Wollbestand verkaufen können. Nicht, dass der Fehler bei ihr gelegen hätte: Die meisten Händler waren auf einem Teil ihrer Vliese sitzengeblieben, Prior Philip nicht ausgenommen. Er schien sich keine Sorgen zu machen, aber Aliena war beunruhigt. Was sollte sie mit der restlichen Wolle anfangen? Sie konnte sie natürlich bis zum nächsten Jahr lagern. Aber wenn sie dann wieder nicht alles verkaufte? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sich Rohwolle unbeschadet hielt. Ihrem Gefühl nach würde sie austrocknen und spröde, was die Weiterverarbeitung nur erschweren konnte.
Wenn es weiterhin bergab ging, konnte sie Richard nicht länger unterstützen. Ritter zu sein war ein kostspieliges Unterfangen. Das für zwanzig Pfund erstandene Schlachtross hatte nach der Schlacht zu Lincoln die Nerven verloren und taugte fast nichts mehr; er würde bald ein neues haben wollen. Aliena konnte sich das zwar leisten, aber es riss dennoch ein tiefes Loch in ihren Beutel. Richard schämte sich, finanziell von ihr abhängig zu sein – eine ungewöhnliche Situation für einen Ritter –, und hatte gehofft, ausreichend Beute zu machen, um sich selbst über Wasser halten zu können, doch derzeit befand er sich auf der Seite der Verlierer. Wenn er die Grafschaft wirklich wiedergewinnen sollte, musste Aliena weiterhin geschäftliche Erfolge aufweisen.
In ihren schlimmsten Albträumen hatte sie all ihr Geld verloren und sah sie beide wieder als mittellose Beute ehrloser Priester, wollüstiger Adliger und blutrünstiger Banditen; am Ende landeten sie in dem stinkenden Verlies, dem letzten Aufenthaltsort ihres Vaters, wo sie, an die Wand gekettet, verreckten.
Dem Albtraum stand ein glücklicher Traum gegenüber, in dem sie und Richard gemeinsam auf der Burg, ihrer ehemaligen Heimat, lebten. Richard regierte ebenso weise wie einst ihr Vater, und Aliena half ihm dabei, hieß wichtige Besucher willkommen, erfüllte die Pflichten der Gastfreundschaft und saß bei den Mahlzeiten auf der Empore zu seiner Linken. Doch seit einiger Zeit hinterließ sogar dieser Traum einen faden Geschmack.
Sie schüttelte den Kopf, um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben, und dachte wieder an die Wolle. Die simpelste Lösung bestand darin, die Hände einfach in den Schoß zu legen, die überschüssige Wolle bis zum folgenden Jahr aufzubewahren und sich für den Fall, dass sie ihre Ware auch dann nicht verkaufen konnte, mit dem Verlust abzufinden. Sie würde ihn schon verkraften. Dabei lief sie allerdings Gefahr, im darauffolgenden Jahr auf die gleichen Schwierigkeiten zu stoßen und somit am Beginn einer rückläufigen Geschäftsentwicklung zu stehen. Sie musste sich nach einer anderen Lösung umsehen. Sie hatte bereits versucht, die Wolle an den ortsansässigen Weber zu verkaufen, aber sein Bedarf war
Weitere Kostenlose Bücher