Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sich nicht im Klaren. Vielleicht, weil ihre Begeisterung für Jacks Geschichten bei niemandem auf Verständnis gestoßen wäre. Auf jeden Fall ließ sie die Leute, aus welchem Grund auch immer, stets in dem Glauben, sie begäbe sich auf ihren üblichen sonntäglichen Streifzug, und Jack hielt es, ohne dass sie sich miteinander abgesprochen hätten, ebenso; schließlich kam es so weit, dass sie niemandem mehr von ihren Treffen erzählen konnten, ohne den Eindruck zu erwecken, sie fühlten sich deren schuldig. Ihre sonntäglichen Begegnungen wurden, ohne dass es je so geplant gewesen wäre, zu Geheimtreffen.
Eines Sonntags las Aliena ihm zur Abwechslung das Alexanderlied vor. Im Gegensatz zu Jacks Geschichten, in denen sich alles um höfische Intrigen, internationale Politik und gefallene Krieger drehte, ging es bei dieser um Liebeshändel und Magie. Jack zeigte sich von diesen neuen Elementen so beeindruckt, dass er am folgenden Sonntag zu einem neuen, selbst erfundenen Lied ansetzte.
Es war ein heißer Spätsommertag gegen Ende August. Aliena trug Sandalen und ein leichtes Leinenkleid. Im Wald war es, mit Ausnahme des plätschernden Wasserfalls und dem Auf und Ab von Jacks Stimme, mucksmäuschenstill. Die Geschichte begann wie die meisten anderen auch mit der Beschreibung eines tapferen Ritters – bärenstark, kampferprobt und im Besitz eines Zauberschwerts –, dem eine schwierige Aufgabe gestellt wird: in ein fernöstliches Land zu reisen und von dort einen Rebstock mitzubringen, an dem Rubine wuchsen. Doch dann war es auch schon vorbei mit der Ähnlichkeit: Der Ritter kam ums Leben, und in den Mittelpunkt rückte sein Knappe, ein tapferer, aber mittelloser junger Mann von siebzehn Jahren, der sich Hals über Kopf in die Tochter des Königs, eine wunderschöne Prinzessin, verliebt hatte. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit und obwohl er nichts besaß als ein geschecktes Pony und seinen Bogen, schwor der Knappe, die seinem Herrn gestellte Aufgabe auszuführen.
Statt sich seiner Feinde, wie die gewöhnlichen Helden solcher Geschichten, mit einem einzigen, kraftvollen Hieb des Zauberschwerts zu entledigen, ließ dieser Knappe sich auf die aussichtslosesten Kämpfe ein, die er nur durch schieres Glück oder seinen Einfallsreichtum gewann und dabei dem sicheren Tod stets nur um Haaresbreite entging. Anders als die furchtlosen Ritter Karls des Großen hatte er nicht selten sogar Angst vor seinen Feinden, ließ sich aber durch nichts von seiner Mission abbringen. Und dennoch schien sie ebenso aussichtslos wie seine Liebe.
Aliena war von der Beherztheit des Knappen viel mehr angetan als von der Allmacht seines Herrn: Begab er sich auf feindlichen Boden, so biss sie sich vor Angst um ihn auf die Knöchel, verfehlte ihn der Schwertstreich eines Giganten wieder einmal nur um Haaresbreite, so japste sie aufgeregt, legte er sich einsam und allein schlafen und träumte von seiner unerreichbaren Prinzessin, so seufzte sie tief. Die Liebe, die er für die Dame empfand, schien ganz und gar untrennbar mit seiner Unbezwingbarkeit verwoben.
Am Ende brachte er zum denkbar größten Erstaunen des gesamten Hofes tatsächlich den Rebstock, an dem Rubine wuchsen, heim. »Dem Knappen jedoch galten die Barone und Grafen nicht so viel«, fuhr Jack fort und schnippte verächtlich mit den Fingern. »Ihm ging es allein um eine einzige Person. In derselben Nacht schlich er sich heimlich in ihre Gemächer, indem er die Wachen mittels einer klugen List, die er auf seiner Reise gen Osten gelernt hatte, übertölpelte. Endlich stand er vor ihrem Bett und betrachtete liebevoll ihr schlafendes Antlitz.« Dabei sah Jack Aliena in die Augen. »Sie erwachte sofort, aber sie fürchtete sich nicht. Der Knappe griff behutsam nach ihrer Hand.« Jack spielte die Geschichte mit, während er sprach, griff nach Alienas Rechter und hielt sie mit beiden Händen. Sie, im Bann seines Blickes und der machtvollen Liebe des jungen Knappen, bemerkte es kaum. »Ich liebe Euch so sehr«, sagte er zu ihr und küsste sie auf die Lippen. Jack beugte sich vor und küsste Aliena. Seine Lippen berührten sie so leicht, dass sie kaum etwas spürte. Und es war so rasch geschehen, dass die Geschichte auch schon weiterging. »Die Prinzessin fiel in einen tiefen Schlaf«, fuhr er fort. Habe ich mir das nur eingebildet, dachte Aliena. Hat Jack mich wirklich geküsst? Sie konnte es kaum glauben, spürte aber immer noch die Berührung seiner Lippen auf den ihren. »Am
Weitere Kostenlose Bücher