Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
halten. Das Schlingern des Schiffes schien ihm zu bekommen, es schlief bald ein. Als die Nacht hereinbrach und das Boot vor Anker ging, sprach Aliena die Gebete der Mönche mit. Den Rest der Nacht verbrachte sie in einem unruhigen Dämmerzustand, das Kind in ihren Armen.
Am nächsten Tag legten sie in Barfleur an, und Aliena fand in Cherbourg, der nächstgelegenen Stadt, eine Unterkunft. Einen ganzen Tag lang lief sie durch die Straßen und fragte Gastwirte und Baumeister nach einem durchreisenden jungen englischen Steinmetzen mit flammend rotem Haar. Niemand konnte sich an ihn erinnern – allerdings waren die meisten Normannen rothaarig, sodass Jack unter ihnen kaum aufgefallen wäre. Möglicherweise war er auch in einem anderen Hafen von Bord gegangen.
Aliena hatte im Grunde gar nicht damit gerechnet, schon so bald auf eine Spur von Jack zu stoßen; dennoch war sie ein wenig entmutigt. Schon am nächsten Morgen brach sie wieder auf und ritt gen Süden. Sie schloss sich einem Messerhändler mit seiner Familie an – einer stets fröhlichen dicken Frau und vier Kindern. Sie schlugen ein sehr gemächliches Tempo an, sodass Aliena ihr Pferd, das noch einen weiten Weg vor sich hatte, schonen konnte. Obwohl die Familie einen gewissen Schutz bot, trug Aliena ihr scharfes Messer mit der langen Klinge, festgebunden unter ihrem linken Ärmel, bei sich. Sie sah nicht wohlhabend aus. Ihre Kleidung war warm, aber nicht modisch, und ihr Pferd wirkte eher derb als feurig. Sie achtete darauf, stets ein paar Münzen griffbereit in einer Börse zu tragen, sodass niemand die schwere Geldkatze zu sehen bekam, die sie sich unter ihrer Tunika um die Taille gebunden hatte. Ihr Kind stillte sie stets allein, damit keine fremden Männer ihre Brüste zu sehen bekamen.
Am Abend war ihr großes Glück beschieden und munterte sie beträchtlich auf. Sie hatten in einem Dörfchen namens Lessay haltgemacht, und dort traf Aliena einen Mönch, der sich noch lebhaft eines jungen Engländers erinnerte – jawohl eines Steinmetzen, der das Rippengewölbe in der Klosterkirche, eine geradezu revolutionäre architektonische Neuerung, bewundert hatte. Aliena frohlockte. Der Mönch erinnerte sich sogar daran, dass Jack erzählt hatte, er sei in Honfleur an Land gegangen – eine Erklärung dafür, weshalb Aliena in Cherbourg keine Spur von ihm gefunden hatte. Obwohl die Begebenheit nun schon ein Jahr zurücklag, berichtete der Mönch geläufig von Jack, offenkundig beeindruckt von seinem Charme. Aliena war überglücklich – hatte sie nun doch die Bestätigung dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Schließlich verabschiedete sie sich von dem Mönch und begab sich zur Nachtruhe ins Gästehaus der Abtei. Schon halb im Schlaf drückte sie ihr Söhnchen fest an sich und flüsterte in seine kleine rote Ohrmuschel: »Jetzt finden wir deinen Vater bestimmt!«
In Tours wurde der Kleine krank.
Die Stadt war wohlhabend, schmutzig und dicht bevölkert. In Schwärmen huschten die Ratten um die riesigen Kornspeicher am Loire-Ufer. Die Stadt war mit Pilgern überfüllt, denn Tours galt seit alters her als Ausgangspunkt für die Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Zudem stand das Fest des heiligen Martin, des ersten Bischofs der Stadt, unmittelbar bevor. Viele Leute strömten in die Abteikirche zu seinem Grabmal. Martins Berühmtheit rührte daher, dass er einst seinen Mantel zerteilt und die eine Hälfte einem nackten Bettelmann gegeben hatte. Alle Schenken und Herbergen in der Stadt waren belegt, sodass Aliena froh sein musste, in einer baufälligen, von zwei Schwestern älteren Jahrgangs geleiteten Kaschemme am Fluss Unterschlupf zu finden. Die beiden alten Damen waren zu gebrechlich, um auch nur für die nötigste Sauberkeit sorgen zu können.
Aliena hielt sich nicht lange in der Unterkunft auf, sondern lief schon bald mit dem Säugling auf dem Arm in der Stadt umher und erkundigte sich nach Jack. Dabei wurde ihr rasch klar, dass sich die Wirtsleute in einer Stadt mit so vielen Besuchern und Durchreisenden schwerlich an einen bestimmten Gast aus dem Vorjahr erinnern konnten. Dennoch blieb sie an jeder Baustelle stehen und fragte nach einem rothaarigen jungen Steinmetzen aus England. Niemand hatte ihn eingestellt, niemand ihn gesehen.
Seit Lessay war sie nun ohne ein Zeichen von ihm. Wenn Jack wirklich nach Santiago de Compostela wollte, so hätte er nahezu zwangsläufig durch Tours kommen müssen. Vielleicht hat er seine Pläne noch
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